«Das ist unser Land, wir wollen nicht zu Russland gehören»
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Vecislavs Haus wurde zerstört:«Das ist unser Land, wir wollen nicht zu Russland gehören»

Blick im annektierten Gebiet Saporischschja
«Putin, verschwinde! Unser Leben war so gut ohne dich!»

Die einstige Millionenstadt Saporischschja wurde am Freitag von Russland annektiert. Putins Truppen terrorisieren die Bewohner mit Luftabwehrraketen. Doch der Widerstand gegen das Moskauer Terror-Regime ist heftig. Zu Besuch an der ukrainischen Südfront.
Publiziert: 04.10.2022 um 01:01 Uhr
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Aktualisiert: 10.10.2022 um 19:55 Uhr
Samuel Schumacher aus Saporischschja

Wenn die Raketen kommen, verstummen die Frösche am Fluss Dnipro. Ein lautes Zischen, dann die Explosion. Die Erschütterung spürt man bis ins Hotelzimmer. Am Samstag wecken uns die russischen Geschosse um 6.23 Uhr, am Sonntag um 4.37 Uhr. «Verdammte Russen», ruft mein Übersetzer im Zimmer nebenan. Danach legt sich die Ruhe wieder über die stockdunkle Stadt. Die Frösche nehmen ihr Konzert wieder auf.

Über den Telegram-Kanal des Bürgermeisters von Saporischschja kommen die ersten Meldungen über die getroffenen Ziele herein: ein ehemaliges Behindertenheim, eine Helikopterfabrik, mehrere Wohnhäuser. «Der Feind hat unsere Stadt attackiert! Wir werden gewinnen!», schreibt der Bürgermeister der Stadt, die nur unweit von Europas grösstem Atomkraftwerk entfernt ist.

Die nächtlichen Angriffe sind inzwischen Alltag in Saporischschja, der einstigen Millionenstadt im Südosten der Ukraine. Neu ist nur, dass die Russen für ihre Angriffe auf S300-Raketenwerfer setzen, die eigentlich für die Luftabwehr gedacht sind. Ein Zeichen dafür, dass Putins Truppen im besetzten Süden langsam die Munition ausgeht.

«Saporischschja, Todeszone der Besatzer» steht auf einem riesige Plakat am südlichen Stadteingang.
Foto: Samuel Schumacher
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Wer nach 23 Uhr Licht macht, muss die Vorhänge ziehen

Die Region Saporischschja gehört zu jenen Gebieten, die Wladimir Putin (69) am Freitag annektiert hat. Ihre Bewohner gehörten «für immer» zu Russland, proklamierte der russische Machthaber. Doch die Menschen in Saporischschja sind gar nicht gut auf den mächtigen Mann im Kreml zu sprechen. «Putin, verschwinde! Unser Leben war so gut ohne dich!», schimpft Nina (62). Sie steht im verwüsteten Zimmer ihres Hauses und wischt sich Tränen aus dem dezent geschminkten Gesicht.

Erst grad sei ihr Mann gestorben. Krebs. «Eine Folge des Krieges», sagt Nina. Und jetzt das: Am 24. September ist eine Rakete in ihrem Quartier eingeschlagen. Die Wucht des Einschlags hat auch ihr Haus zerstört. Die Fenster sind zersplittert, ganze Wandstücke drohen einzustürzen, durch das kaputte Dach tropft der kalte Herbstregen. «Ich will nur noch weg von hier. Dabei war doch alles so gut vor dem Krieg», schluchzt Nina.

Tagsüber merkt man Saporischschja den Krieg kaum an. Hippe Cafés, eine schöne Flusspromenade, fröhliche Menschen. Nachts aber versteckt sich die Metropole unter einem Schleier der Stille. Ab 23 Uhr gilt eine Ausgangssperre. Wer danach noch Licht macht, soll die Vorhänge zuziehen. Die Stadt duckt sich weg in die Dunkelheit. Doch die russischen Raketen finden sie – immer wieder.

Die Schoggitorte liegt noch auf der Rückbank des zerbombten Golfs

Zum Beispiel vergangenen Freitag. Etwa 150 Menschen warteten in den frühen Morgenstunden vor einem Checkpoint südlich der Stadt, um ihren Verwandten im besetzten Süden Hilfsgüter zu bringen. Drei Raketen krachten in die Menge. 31 Menschen wurden getötet, 94 verletzt. Drei Tage danach sieht man auf dem Parkplatz nur kaputte Autos und metertiefe Raketenkrater. Die zerfetzten Leichen wurden weggeräumt. Auf der Rückbank eines weissen Golfs liegt noch ein Sack Kartoffeln und eine Schoggitorte.

Dimytri (30) weiss, wie sehr die Menschen im Süden von Saporischschja auf solche Hilfslieferungen angewiesen wären. Bis vor zwei Monaten hat er selbst da gewohnt und ein kleines Hotel betrieben. «Jetzt sind da tschetschenische Truppen eingezogen», sagt Dimytri mit starrem Blick. Der Wind weht farbige Blätter über den Platz im Herzen der Stadt. «Wir sind nicht mehr sicher vor diesen Wilden. Ich hoffe, wir können sie stoppen», sagt Dimytri.

Drei Monate lang hat er unter der russischen Besatzung gelebt, bevor er hierhin geflohen ist. Was die Russen seiner Stadt angetan hätten, darüber will er nicht sprechen. «Folter, Vergewaltigungen, alles», sagt er nur. Und Putins Annexion? Das sei doch alles nur im Kopf dieses Wahnsinnigen, sagt Dimytri. «Putin kann von mir aus den Mars annektieren. Es wird nichts verändern. Wir wissen, wer er ist und was er macht.» Schaut doch nur diese Stadt hier an, sagt Dimytri wütend: «Sie schiessen mit Raketen auf Zivilisten, weil sie unsere Soldaten nicht besiegen können.»

Willkommen in Saporischschja, der «Todeszone für die Besatzer»

Diese Wut spüren auch Olga (62) und Vecislav (62). Sie stehen mit Gartenhandschuhen und warmen Jacken vor dem zerbombten Haus eines Freundes. «Wir wollen die Löcher in den Wänden abdichten. Jetzt wird es kalt», sagt Vecislav. Angst vor Putins Raketen? Nein, das hätten sie nicht. «Das hier ist unser Land, das hier ist unsere Stadt, wir werden nirgendwo hingehen, niemals», sagt Olga. Dann lachen die beiden über einen Witz, den wir nicht verstehen. «Humor», erklärt Vecislav, der Fernsehjournalist: «Ohne den hält man das hier ja gar nicht aus.»

Vielleicht ist auch das riesige Plakat, das am südlichen Stadteingang hängt, eine Form von ukrainischem Humor. Ein grimmiger Kämpfer mit nacktem Oberkörper ist darauf zu sehen, daneben in grossen Lettern der Spruch: «Saporischschja, Todeszone für die Besatzer.» Bislang hat es noch keiner der Besatzer in die Todeszone geschafft. Die Bewegung geht in die andere Richtung. Die ukrainische Armee drängt die Eindringlinge auch an der Südfront zurück. «Für immer zu Russland gehören», das will Saporischschja ganz offensichtlich nicht.

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