BLICK in der Stadt des Terrors
«Sie haben unsere Schwestern getötet»

Nach dem Anschlag rücken die Menschen in Manchester zusammen. Die Politiker hingegen setzen auf Konfrontation. BLICK war vor Ort.
Publiziert: 28.05.2017 um 11:18 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 13:55 Uhr
Benno Tuchschmid (Text) und Thomas Meier (Fotos)

Am Montagabend riss der libyschstämmige Brite Salman Abedi (22) im Foyer der Manchester Arena 22 Menschen mit sich in den Tod. Ein paar Nächte später schreit Laura Wade (33) an einer Strassenecke im Ausgehviertel Northern Quarter: «We love Manchester!» 15 Minuten Fussmarsch vom Tatort entfernt. Leben und Tod liegen nahe beieinander in Manchester (GB). Im Moment siegt das Leben.

Zwei Verdächtige bei Razzia verhaftet

Laura hat einen Drink in der Hand. Ekstatisch tanzt sie mit Dutzenden junger Menschen unter freiem Himmel. Auf dem Trottoir hat ein DJ seine Anlage aufgebaut. Die Bässe dröhnen, mischen sich mit Polizeisirenen. Sicherheitskräfte suchen noch immer fieberhaft nach Komplizen des Attentäters. Abedi habe Material für mehr als eine Bombe gehabt, so die Polizei. Gestern führte sie im Stadtteil Moss Side eine weitere Razzia durch und verhaftete zwei Verdächtige. Dann hoben die Behörden die höchste Terrorwarnstufe auf. Elf Verdächtige sind derzeit in Haft. 

Laura küsst inmitten ­einer Menschenmasse ­einen grossen, dunkelhäutigen Mann auf die Wange und schreit: «Das ist unsere Antwort auf den Terror.» Dinizulu Masuku (40) lacht und schwenkt ein Schild im Takt des stampfenden Rhythmus. Darauf steht: «Keep calm and rave on». Ruhe bewahren, weiterfeiern!

«Es fühlt sich an, als ob sie unsere Schwestern getötet haben»: Hannah Bowler (18, l.) und Keely Maggi (17).
Foto: Thomas Meier
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Die Stadt ist für ihr Gemeinschaftsgefühl berühmt

«Manchester ist eine Stadt, in der die Leute zusammenhalten wie in einem Dorf», sagt Laura. Das Gemeinschaftsgefühl der Einwohner gilt in ganz Grossbritannien als legendär. Feiern gehört zur Identität. Zwei der erfolgreichsten Fussballklubs der Welt kommen von hier: Manchester United und Manchester City. 

So ausgelassen wie die Stadt jubelt, so aussergewöhnlich trauert sie auch. Am Donnerstag hatten sich Tausende auf dem St Ann’s Square im Zentrum zu einer Schweigeminute versammelt. In die Stille stimmte eine Frau plötzlich «Don’t Look Back in Anger» an, Blick nicht im Zorn zurück, einen Song der Band Oasis, der berühmtesten Söhne der Stadt. Am Ende sang der ganze Platz.

Sie freute sich so, Ariana Grande zu sehen

Im Blumenmeer des St Ann’s Square trauert Manchester um seine Kinder, Jugendlichen, Eltern. Angelika (40) und Marcin Klin (42), die starben, weil sie ihre Töchter abholen wollten. Saffie Rose Roussos (8). Oder Georgina Callander (18), die einen Tag vor ihrem Tod einen Tweet an Pop-Star Ariana Grande schickte: «Ich freue mich so, dich morgen zu sehen.»

«Es fühlt sich an, als ob sie unsere Schwestern getötet haben», sagt Hannah Bowler (18). Die Schülerin ist mit ihrer Freundin Keely Maggi (17) zum St Ann’s Square gekommen, um Rosen niederzulegen.

Hannah war zu Hause, als Montagnacht die ersten Fragen auf ihrem Smartphone aufleuchteten. «Hast du gehört, was passiert ist?» Seither scheine sie in einer anderen Stadt zu leben, sagt Hannah. «Die Menschen reden miteinander, statt in ihre Handys zu starren.» So wie Raymond Emanuel (65) und AJ Ahmed (48). Sie sind getrennt zum St-Ann’s-Platz gekommen. Emanuel ist Jude. Ahmed ist Muslim. Jetzt stehen sie zusammen vor dem Blumenmeer und sagen, dass Religion niemals trennen dürfe. Ahmed: «Wir sind alle eins.»

Nach Wahlkampf-Pause umso härtere Attacken

In der britischen Politik ist von Zusammengehörigkeit nichts mehr zu spüren. In weniger als zwei Wochen wählt Grossbritannien eine neue Regierung. Die konservative Premierministerin Theresa May und ihr linker Herausforderer Jeremy Corbyn setzten nach dem Anschlag ihren Wahlkampf aus. Um sich nun umso härter zu attackieren.

Es war Labour-Chef Corbyn, der am Freitagmorgen wieder zum Angriff überging. Er warf Theresa May vor, ihre Sparpolitik würde die Sicherheit des Landes gefährden. May hatte als Innenministerin 20’000 Stellen bei der Polizei abgebaut. Corbyn doppelte nach, die britische Nahostpolitik erhöhe die Terrorgefahr: «Wir müssen mutig genug sein und zugeben, dass der Krieg gegen den Terror einfach nicht funktioniert.» May konterte: «Es gibt keine Entschuldigung für das, was in Manchester geschehen ist.» Noch im April lag Corbyn in Umfragen 24 Prozentpunkte zurück, mittlerweile sind es nur noch fünf. 

Die Spur des Attentäters führt in den Süden Manchesters. Zehn Kilometer von der Manchester Arena entfernt steht Mohamed El Khayat auf der Empore der Didsbury-Moschee und leitet das Freitagsgebet. Er ist Vorsteher der Moschee und des dazugehörigen islamischen Zentrums. Hunderte Gläubige sind einen Tag vor Beginn des Fastenmonats Ramadan in die frühere Kirche gekommen. Gott ist gross, murmeln sie, wo auch Salman Abedi betete.

Gemeinde unter Generalverdacht

Die Gemeinde steht unter Generalverdacht, auch wenn es bisher keine Hinweise auf eine Mittäterschaft gibt. Als erwiesen gilt, dass Abedi Kontakte zu einem IS-Netzwerk in Manchester hatte. «Wir verdammen diese Tat», sagt Vorsteher El Khayat in seiner Predigt, «wir sind Teil dieser grossartigen Stadt.» Für die Medien fügt er hinzu: «Wenn ihr wissen wollt, wie wir sind, dann fragt unsere Nachbarn oder Tausende von Schülern, die uns jedes Jahr besuchen.» Nach der Predigt spricht ein Polizist zur muslimischen Gemeinde. Er versicherte den Gläubigen: «Wir stehen Schulter an Schulter.»

Vor dem Gebetshaus steht Adel Alrayni (52). Auch er kommt aus Libyen. Auch er ging in die Didsbury-Moschee. Er zeichnet ein anderes Bild. Er sei Zeuge gewesen, wie radikale Prediger in der Moschee versucht hatten, Gläubige für den Heiligen Krieg zu rekrutieren. Sein Vorwurf ist nicht überprüfbar. Auch nicht, ob Alrayni 1999 tatsächlich die Nase gebrochen wurde, als er die Radikalen zur Rede stellen wollte. 

So viele Libyer wie nirgends sonst ausserhalb Libyens

Die libysche Gemeinde Manchesters steht im Fokus. 10’000 wohnen hier. So viele wie nirgends sonst ausserhalb Libyens. Sie flohen einst vor dem brutalen Despoten Muammar al-Gaddafi. Viele kehrten 2011 in ihr Heimatland zurück, mit der Waffe in der Hand.

Eine Anti-Gaddafi-Gruppierung nannte sich «Manchester Fighters». Gemäss Medienberichten liess der Geheimdienst auch Menschen nach Libyen ausreisen, die als Militante bekannt waren. Die britischen Libyer waren willkommene Bodentruppen für die westliche Militärkoalition, die das Gaddafi-Regime von der Macht wegbombte.

Auch der Vater des Attentäter von Manchester war Teil einer militanten Gruppierung. Ramadan Abedi (51) soll für die «Libyan Islamic Fighting Group» gekämpft haben. Eine Gruppe mit Verbindungen zur Al Kaida. Mittlerweile ist er in Libyen in Haft.

Sein Sohn Salman Abedi kehrte erst vor kurzem von einem Libyen-Aufenthalt nach Manchester zurück, die Stadt, in der er aufwuchs, zur Schule ging und mit Manchester United mitfieberte. In seinem Rucksack hatte er den Tod.

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