Hier muss der Blick-Reporter vor russischen Raketen flüchten
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Im ukrainischen Donbass:Hier muss der Blick-Reporter vor russischen Raketen flüchten

Blick-Reporter gerät im Donbass in Raketenangriff – für Einheimische ist das Alltag
«Entspann dich. Angst bringt dich nicht weiter»

Der Krieg im Donbass tobt mit voller Brutalität. In den zerstörten Dörfern an der ostukrainischen Front leben noch immer Menschen – trotz des russischen Raketen-Terrors. Blick war auf der gefährlichen Hilfstour mit dabei.
Publiziert: 05.08.2022 um 21:11 Uhr
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Aktualisiert: 06.08.2022 um 12:38 Uhr
Samuel Schumacher

Ein ungeheures Zischen zerreisst die Ruhe über dem Bauerndorf Swaniwka im ostukrainischen Donbass. Instinktiv werfe ich mich ins matschige Gras. Eine Sekunde später eine laute Explosion, kurz darauf noch ein Knall. Ich stehe auf, renne in den Keller des Hauses, in dessen Garten ich eben noch mit zwei ukrainischen Soldaten Birnen gepflückt habe. Modriger Geruch, fahles Taschenlampenlicht, schwere Atemzüge. Mein Herz rast.

Dann ertönt eine Stimme oben an der Kellertreppe. «Komm wieder raus!» In der Küche des Hauses steht Michail (49) und streckt mir einen Birnenschnitz entgegen. Russische Raketenangriffe gehören für ihn und seine Kameraden in der ukrainischen Armee längst zum Alltag.

«Uns kommen Ambulanzen mit verletzten Soldaten entgegen»
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Blick-Reporter an der Front:«Uns kommen Ambulanzen mit verletzten Soldaten entgegen»

Rakete schlägt 500 Meter neben uns ein

Auch die Menschen in Swaniwka bringen die Geschosse nicht aus ihrer lethargischen Ruhe. Nur Minuten nach dem Einschlag der russischen Geschosse rund 500 Meter neben dem Birnen-Garten spazieren die Nachbarn schon wieder über die dreckige Dorfstrasse. Für sie ist zur Normalität geworden, was für keinen Menschen je normal sein sollte.

Blick-Reporter Samuel Schumacher schreibt aus dem Donbass.
Foto: Samuel Schumacher
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Michail und sein Armee-Kollege Andryi (54) kommen einmal pro Woche hier vorbei, um die Menschen in den Frontdörfern mit dem Allernötigsten zu versorgen: Reis, Pasta, Zucker, Brot und Tee. Dazu Windeln für die greisen Dorfbewohner. «Ohne diese Lieferungen wären sie verloren», sagt Michail.

80 Prozent der Ukrainer kämpfen freiwillig

Im Februar hat er seine spanische Wahlheimat Murcia verlassen, um für sein Land zu kämpfen. Etwa 10 Prozent der ukrainischen Soldaten wohnten vor dem Krieg im Ausland, rund 80 Prozent aller Armeeangehörigen haben sich freiwillig für den Krieg gemeldet. «Bei jedem Verwundeten, den unsere Kameraden aus dem Feld zurückbringen, steigt unsere Motivation, noch mehr Russen zu töten», sagt Andryi.

Auf der einzigen verbliebenen Zufahrtsstrasse hierhin kamen uns immer wieder Militärambulanzen entgegen. Der Krieg im Donbass wütet nach einer kurzen strategischen Pause wieder mit voller Brutalität. Das dumpfe Grollen der Artilleriegeschosse wummert ununterbrochen aus der allzu nahen Ferne. Der Staub in der Luft brennt seltsam in den Augen. Am Strassenrand liegen tote Hunde zwischen zerbombten Fahrzeugen.

Junkies an der Kriegsfront

Andryi geht lächelnd durch diese düstere Welt. «Entspann dich. Angst bringt dich nicht weiter», rät er mir. Dann klopft er an die nächste Haustür, verteilt Brot und Zucker und hakt auf seiner Liste die Namen ab. Zwei Junkies stolpern ihm auf der Strasse entgegen und halten sich die zerstochenen Arme. «Wo wohnt ihr?», will der Glatzkopf wissen. Keine Antwort, nur leere Blicke in die Leere dieser Kriegslandschaft. Andryi zuckt die Schultern und lässt sie ziehen.

Auf dem Rückweg fahren wir in der Frontstadt Bakhmut vorbei. Ein Mann steht auf einer Leiter und flickt sein zerschossenes Hausdach. Andryi lacht laut. «Vergebene Mühe! Noch ist der Krieg nicht vorbei!», ruft er aus dem Fahrzeug. Lange werde es wohl nicht mehr dauern, meint Michail. «Wenn hier alles durch ist, dann komm wieder!», sagt er zu mir. «Eigentlich ist es wunderschön bei uns.»

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