«Die Geschichten der Leute machen mich sprachlos»
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Blick-Reporter in Israel:«Die Geschichten der Leute machen mich sprachlos»

Blick spricht mit Überlebenden des Horrors in Israel
«Ich hoffe, meine Buben sind in einem Hamas-Tunnel weit unter der Erde»

Renana Gome-Jacob erzählt, wie sie am Telefon mitanhören musste, wie die Hamas ihre beiden Buben als Geiseln nimmt. Revital Yanay erinnert sich, wie sie in ihrem Versteck dafür betete, dass ihr Baby nicht zu weinen beginnt. Blick traf die Überlebenden von Nir'Oz.
Publiziert: 01.11.2023 um 20:04 Uhr
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Aktualisiert: 02.11.2023 um 15:46 Uhr
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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Renana Gome-Jacob (50) hat nur einen Wunsch: «Ich hoffe, dass meine Buben irgendwo weit unter der Erde in einem Hamas-Tunnel sind und von den Raketenangriffen verschont bleiben.» Die israelische Bodenoffensive in Gaza ist in vollem Gang. Jede Nacht treffen Raketen Hunderte Ziele im palästinensischen Küstenstreifen. Und irgendwo mitten im tödlichen Chaos halten die Terroristen Gome-Jacobs Söhne gefangen.

Yagil (12) und Or (16) sind zwei von 80 Geiseln, die die Hamas am 7. Oktober aus dem Kibbuz Nir’Oz entführt hat. Seither: kein Lebenszeichen. Zuletzt dämpfte die Meldung über den Tod der deutschen Geisel Shani Louk (†22) die Hoffnung der Hinterbliebenen. Auch Gome-Jacob hat schreckliche Angst, dass ihre entführten Kinder den Horror nicht überleben könnten.

Blick trifft die dreifache Mutter am Tag nach ihrem 50. Geburtstag in einem Hotel im südisraelischen Eilat. Die israelische Regierung hat die rund 190 Überlebenden aus Nir’Oz temporär hier untergebracht. «Ich hatte so sehr gehofft, dass dieser Albtraum an meinem Geburtstag vorbei sein würde», sagt Gome-Jacob und wischt sich die Tränen aus den dunklen Augen. Von Or und Yagil aber fehlt weiter jede Spur.

Renana Gome-Jacob (50) musste am Telefon live mitanhören, wie die Hamas ihre beiden Buben als Geiseln nahm.
Foto: Samuel Schumacher
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Yagil sagte noch: «Lasst mich los, ich bin doch nur ein Kind»

Nach dem Terror-Alarm am frühen Morgen war sie zwei volle Stunden lang mit ihren Buben am Telefon. «Ich sagte ihnen, sie sollen ruhig bleiben und die Tür im Schutzraum des Hauses blockieren», erzählt Gome-Jacob. Sie selbst hatte im Nachbarkibbuz bei ihrem Partner übernachtet. «Irgendwann vernahm ich Schüsse und arabische Stimmen durchs Telefon. Sie brachen durch die Schutztür zu meinen Buben durch. Yagil sagte noch: ‹Lasst mich los, ich bin nur ein Kind.› Das ist das Letzte, was ich von ihm gehört habe.»

Mehr als 220 Menschen hält die Hamas in Gaza als Geiseln, darunter mindestens 31 Babys und Kinder. «Sie sollten nicht Teil sein dieses Spiels. Das ist so unfair», sagt Renana Gome-Jacob. Sie vermisse den Tiktok-Krach von Yagils Handy, der sie früher immer so störte. Und sie wisse, mit wie viel Kraft Or versucht habe, die Tür im Schutzraum zu blockieren. Es hat nicht gereicht.

Ein paar Zimmer weiter sitzt Revital Yanay (44) auf dem Bett und sagt ungläubig: «Vor ein paar Monaten noch machten Ravid und ich hier Ferien. Ich war hochschwanger. Und jetzt ist Ravid einfach weg.» Neben ihr auf dem Bett liegt Alma Jasmin, fünf Monate alt, dichtes Haar, unwissendes Lächeln im Gesicht.

Auch Ravid Katz, den Vater des Babys, hat die Hamas nach Gaza verschleppt. «Als der Alarm begann und wir Schüsse hörten, rannte er raus, um Nir’Oz zu verteidigen. Wir haben uns im Schutzraum unserer Nachbarn versteckt», erzählt Revital Yanay.

«Wir mussten uns entscheiden: Ersticken oder erschossen werden»

Fast zehn Stunden lang habe sie Alma kaum einmal von der Brust genommen. «Sie durfte ja nicht weinen, die Terroristen durften uns nicht finden.» Irgendwann stürmten die bewaffneten Männer trotzdem ins Haus, in dem sich Yanay versteckt hatte. «Sie schossen durch die Tür, trafen den Hund und das Bein meines Nachbarn. Die Tür aber brachten sie nicht auf. Deshalb zündeten sie einfach das ganze Haus an.»

Die Hitze war unerträglich. «Ich habe Alma alles ausgezogen, selbst die Windeln. Der Schutzraum war voller Rauch. Ich musste trotzdem aufstehen, weil Alma sofort zu schreien begann, wenn wir uns hinlegten.» Irgendwann hielten es Yanay und die Nachbarn nicht mehr aus. «Wir mussten uns entscheiden: Wollen wir ersticken oder erschossen werden.» Sie öffneten das Fenster des Schutzraums. Erst Stunden später kamen die Soldaten und retteten sie aus dem Chaos.

Revital Yanay schiessen die Tränen in die Augen. Alma dreht sich auf den Bauch und gluckst fröhlich. «Ich muss sie stillen, deshalb esse ich. Ich muss für sie da sein, deshalb stehe ich morgens auf. Aber ich weiss nicht, wie ich das ohne Ravid schaffen werde», sagt Revital. Er habe Alma am Abend vor dem Einschlafen immer vorgesungen, «Shir Ha’Emek», ein israelisches Lied über das weite Jesreel-Tal. «Jetzt singe ich das Lied, bis Papa wieder da ist», sagt Yanay und drückt Alma einen dicken Kuss auf die Stirn.

«Wir haben 30'000 tollwütige Hunde in unserer Nachbarschaft»

Julian Cohen (76) sitzt mit seiner Hündin Pepper unten im Hotel im Andachtsraum, den die Überlebenden von Nir’Oz für ihre ermordeten und entführten Verwandten und Freunde eingerichtet haben. Er weiss: Seine Partnerin Carole wird nie mehr zurückkommen. Die Hamas-Verbrecher haben zuerst sie und danach ihren Sohn und dessen drei kleine Kinder kaltblütig ermordet. «Das Einzige, was mir Trost spendet, ist, dass Carole nie erfahren hat, was mit ihrem Sohn und seiner Familie passiert ist», sagt Cohen.

Auch er erzählt, wie er sich in seinem Häuschen im Schutzraum verbarrikadiert habe. «Zuerst kamen die Terroristen, danach aber auch unbewaffnete Menschen aus Gaza, die durch unsere Häuser gingen und alles mitnahmen», erzählt Cohen. Er habe mit eigenen Augen ein Elternpaar, drei Kinder und eine alte Frau mit Gehstock gesehen, die seine Küche ausräumten.

Cohen, passionierter Uhrmacher und eigentlich ein Sympathisant der Palästinenser, wählt deutliche Worte, wenn er über die Hamas spricht: «Wenn du einen tollwütigen Hund hast in der Nachbarschaft, musst du ihn zu deinem eigenen Schutz erschiessen. Wir haben hier 30'000 tollwütige Hunde gleich nebenan.» Klar bräuchten die Palästinenser ihren eigenen Staat. «Aber der darf nicht von Mördern und Monstern regiert werden wie jetzt in Gaza.»

«Wir dürfen unsere einzige Heimat jetzt nicht aufgeben.»

In den vergangenen sieben Jahren sei er mit Carole viel gereist, erzählt der Mann mit der sanften, tiefen Stimme: Norwegen, Südafrika, zuletzt Anfang Oktober Polen. «Wir besuchten Auschwitz und sagten danach zueinander: Das darf nie, nie wieder passieren.» Keine Woche später sei es passiert.

Sobald der Krieg vorbei ist, will er zurückkehren nach Nir’Oz. Seine Eltern sind da begraben, bald auch seine ermordete Partnerin, seine getöteten Freunde und Nachbarn. «Ich bin ihnen das schuldig», sagt Cohen. «So viele Juden sind für Israel gestorben. Ihr Tod soll nicht vergebens sein. Wir dürfen unsere einzige Heimat jetzt nicht aufgeben.»

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