Carola Rackete solidarisiert sich mit Schweizer Klimaaktivisten
«Holcim hat eine historische Verantwortung»

Die bekannte Menschenrechts- und Umweltaktivistin erklärt, warum sie bei der Besetzungsaktion im Kanton Waadt nicht dabei war – und was sie gerade macht.
Publiziert: 04.04.2021 um 10:10 Uhr
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Aktualisiert: 08.05.2021 um 22:06 Uhr
Interview: Fabienne Kinzelmann

Nordnorwegen, knapp unter dem Polarkreis. Auf die Minute pünktlich erscheint Carola Rackete (32) zum Interviewtermin per Zoom. Kurz schaukelt das Bild leicht. «Ich bin auf einem Segelboot», erzählt die Wissenschaftlerin und Aktivistin. Eine Schweizer Tageszeitung hatte behauptet, Rackete hätte sich für die Umweltschutz-Aktion «ZAD» angekündigt. Aber davon könnte die ehemalige Seenotretterin, die als mutige Flüchtlingshelferin bekannt wurde, gerade kaum weiter entfernt sein.

Frau Rackete, was machen Sie derzeit genau?
Carola Rackete: Ich arbeite als Kapitänin für die Umweltschutzorganisation In the Same Boat, die in Norwegen 20'000 Strände säubern will. Norwegen hat ja viele Schären und Buchten, in denen Plastikmüll angespült wird. Rund 70 bis 80 Prozent sind Fischereimüll wie alte Netze. Weil die Müllentsorgung kostet, wird das oft einfach ins Meer geworfen. Wenn wir einen Tag mit sechs bis acht Leuten vier oder fünf Stunden Müll sammeln, können wir eine Tonne Plastikmüll finden, manches davon Dekaden alt. Wir entsorgen das kostenpflichtig.

Was kostet Ihre Mission – und wer zahlt das?
Pro Jahr so 15 Millionen norwegische Kronen (1,7 Millionen Franken). Es gab mal eine Förderung vom norwegischen Staat, der will jetzt aber lieber private Firmen damit beauftragen. Besser wäre es, wenn die Plastikproduktion reguliert würde und die Hersteller statt des norwegischen Steuerzahlers für die Entsorgung aufkommen würden. Solange es billig ist, alles einfach ins Meer zu werfen, wird der Müll immer mehr. Und wir alle kennen ja diese Bilder von Tieren, die Plastik gefressen haben und dann sterben.

Carola Rackete: «Wir sind in der Klimakrise schon sehr, sehr spät dran.»
Foto: Keystone
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Sie bewegt als Wissenschaftlerin und Aktivistin das Thema Biodiversität, das in diesem Jahr auch Thema zweier grosser Umweltkonferenzen ist.
Ja, der Verlust der Artenvielfalt ist wirklich dramatisch. Mehr als zwei Drittel der Tierwelt wurden in den vergangenen 50 Jahren vernichtet – durch Waldzerstörung, die Übernutzung von Populationen, den Klimawandel, industrielle Verschmutzung und invasive Arten. Beim Conservation Congress in Marseille und dem UN-Biodiversitätsgipfel in China wird eine Vergrösserung der Naturschutzgebiete weltweit behandelt. Aktuell sollte eigentlich jedes Land 17 Prozent seiner Fläche unter Naturschutz gestellt haben – das soll auf 30 Prozent erhöht werden.

Ist das die Lösung?
Nicht, solange die ganzen Treiber für den Artenverlust noch da sind. Wenn wir über Verschmutzung reden, darf man etwa nicht an der Grenze eines Nationalparks haltmachen. Sprüht die Landwirtschaft daneben Pestizide und dann weht der Wind die herüber, sterben die Insekten trotzdem. Wir müssen diese Industrien also gleichzeitig regulieren. Ausserdem dürfen für neue Naturschutzgebiete nicht Indigene vertrieben werden, die dort seit Jahrhunderten leben. Sie sollten das auch weiterhin tun dürfen und bei der Verwaltung und dem Schutz einbezogen werden.

Im vergangenen Jahr haben sich zahlreiche Länder zu Netto-null-Zielen bekannt. Stimmt Sie das in Sachen Klimawandel optimistisch?
Es passiert viel Spannendes, etwa im Finanzsektor. Immer mehr Banken wollen keine Kredite mehr an bestimmte Unternehmen geben – oder es gab in den letzten Tagen der Trump-Regierung kaum Bieter für Ölbohrrechte in Alaska. Aber wir müssen als Gesellschaft so schnell wie möglich von den fossilen Energien loskommen. Und auch unseren Konsum reduzieren, weil immer mehr wissenschaftliche Studien zeigen, dass «grünes Wachstum» nicht funktioniert. Die Netto-null-Ziele lenken davon ab, dass wir aktuell viel zu viele Treibhausgase ausstossen. Wir können in dem Masse gar nicht aufforsten, und wir haben auch keine Technologien.

Es gibt zum Beispiel das Schweizer Unternehmen Climeworks, das bereits emittiertes CO2 unterirdisch bindet.
Aber es gibt noch nichts, was in den nötigen Dimensionen skalierbar ist und von dem man sicher weiss, dass es funktionieren wird. Wollen wir uns darauf verlassen? Das Risiko ist einfach hoch.

Sie haben sich auf Twitter mit der «ZAD» solidarisiert, einem Klimacamp auf dem Hügel Mormont bei Eclépens VD, wo Aktivistinnen und Aktivisten erfolglos versucht haben, den Ausbau eines Steinbruchs vom Zementmulti Holcim zu verhindern. Warum hat Sie diese Aktion in der Schweiz bewegt?
Holcim ist ein klassisches Beispiel für eine riesige Firma, die extrem hohe Treibhausgas-Emissionen verursacht. Hier muss sich was ändern, wenn wir das Klima stabilisieren wollen – und die grossen Konzerne müssen mitmachen. Wie auch Ölfirmen gehört Holcim zu den grössten Emittenten überhaupt und hat eine historische Verantwortung, weil sie ihr Firmenimperium darauf aufgebaut hat, dass sie die Atmosphäre mit Treibhausgasen verschmutzte. Sie muss umdenken und ihr Geschäftskonzept ändern.

Die Schweiz recycelt schon verhältnismässig viel Beton, für den Baustoff gibt es aber noch keine wirklich gute Alternative.
Ja, und das bedeutet, dass wir einfach insgesamt weniger verbrauchen müssen. Hier in Norwegen sehe ich an der Küste oft alte Farmhäuser, worin früher eine ganze Familie gewohnt hat – und daneben steht ein neues, viel grössere Haus, in dem oft sogar weniger Menschen wohnen. Auch diese systemischen Fragen müssen wir anpacken.

Wenn Sie gerade nicht in Norwegen rumschippern würden: Wären Sie zur Besetzung in die Schweiz gekommen?
Möglicherweise. Weil ich das wirklich wichtig finde. Solche Proteste schaffen Öffentlichkeit, Sichtbarkeit für das Problem. Wir sind in der Klimakrise schon sehr, sehr spät dran.

Sie haben bei ähnlichen Schutzzonen-Aktionen im Hambacher Forst oder im Dannenröder Forst in Deutschland mitgemacht. In beiden Fällen lief die Räumung sehr gewaltvoll. Wie beurteilen Sie die ZAD-Räumung im Vergleich?
Ich kann das schlecht beurteilen. Aber eine Freundin von mir war vor Ort und hat mir Bilder geschickt. Sie beschrieb die Polizei als teilweise rabiat, aber auch sehr strategisch. Sie habe sich genau überlegt, welche Aktivisten sie wegräumen muss und welche nicht.

Hat Ihre Freundin gesagt, was sie mit «rabiat» meint?
Sie hat das nicht spezifiziert.

In den sozialen Netzwerken haben Aktivistinnen und Aktivisten behauptet, die Polizei habe Gewalt ausgeübt – Beweise dafür gibt es nicht. Muss diese Polarisierung sein?
Ich halte das nur bedingt für sinnvoll. Niemand gewinnt, wenn man eine Unterstellung gegen eine gesamte Gruppe macht – egal, ob das jetzt Polizisten oder geflüchtete Menschen sind. Ich habe in Grossbritannien oder in Deutschland auch immer in Gesprächen mit Polizisten erlebt, dass die sich auch für unsere Sache interessieren und auch an den Klimaschutz denken. Aber viele Aktivisten sind misstrauisch, weil etwa im Hambacher Forst und im Danni auch Unfälle passiert sind, die die Polizei verschuldet hat.

Die Polizei wurde zu Beginn der Räumung mit Raketen begrüsst, ein Polizist erlitt durch Pyrotechnik eine Handverletzung. Der Schweizer Klimastreik, der die «ZAD» unterstützt hat, hat ein Foto mit einem mit Farbe attackierten Polizisten geteilt. Darunter stand: «All Cops are targets» – «Alle Polizisten sind Zielscheiben». Ist das das neue Normal in der Klimabewegung?
Ich glaube nicht, dass die Klimabewegung grundsätzlich Gewalt gegen Polizisten befürwortet. Und ich persönlich tue das auch nicht. Bei Aktionen haben natürlich mehrere Menschen Zugriff auf Accounts in den sozialen Netzwerken. Und in der Hitze des Gefechts werden manchmal irgendwelche Sachen hochgeladen, die nicht gepostet werden sollten.

Warum tun Sie eigentlich, was Sie tun?
Wir sind als Menschen von unserem Ökosystem fundamental abhängig. Wenn wir unsere Verantwortung nicht wahrnehmen und uns nicht darum sorgen, wie es den ganzen Lebewesen um uns herum geht, dann wird das sehr bald auf uns zurückfallen. Es wird der Punkt kommen, an dem es unser menschliches Leben enorm erschweren wird.

Bedeutet Ihnen Ostern etwas?
Nee, ich bin Atheistin.

Sie engagieren sich für Freiwilligenprojekte, für die Sie nur Aufwandsentschädigungen oder einen sehr kleinen Lohn bekommen. Denken Sie manchmal auch an so profane Dinge wie Ihre Rente?
Wenn die Klimakreise voranschreitet wie jetzt, haben wir eine sehr konfliktreiche Zeit vor uns. In 35 Jahren kann sich auf der Weltbühne sehr viel destabilisieren. Deswegen glaube ich, Klimaaktivismus ist das Beste, was ich für meine Rente tun kann.

Wissen Sie schon, wo Sie bei der deutschen Bundestagswahl im September Ihr Kreuz setzen?
Ja, das wird sehr viel mit sozialer Gerechtigkeit zu tun haben. Das ist letztlich das grössere Problem als das Umweltthema. Alle Parteien, auch die konservativen und die rechten, werden irgendwann in der Zukunft Klimaschutz oder Umweltschutz machen, wenn die Probleme dramatisch werden. Die Frage ist für mich, wie gerecht das gemacht wird. Wie sieht das sozial aus? Wer hat die Vorteile, wer die Nachteile? Soziale Gerechtigkeit und Solidarität für Menschen, die jetzt schon strukturell benachteiligt sind, ist für mich das Kernthema, auf das es ankommt.

Persönlich: Carola Rackete

Carola Rackete (32) ist eine deutsche Umweltaktivistin und Wissenschaftlerin. Sie hat Nautik studiert und wurde im Juni 2019 als «Flüchtlings-Kapitänin» bekannt, weil sie mit der Sea-Watch 3 nach einer dreiwöchigen Irrfahrt mit 40 Geflüchteten an Bord auf Lampedusa anlegte. Im vergangenen Jahr bestätigte der Oberste Gerichtshof Italiens, dass Racketes anschliessende Verhaftung nicht rechtmässig war.

Keystone

Carola Rackete (32) ist eine deutsche Umweltaktivistin und Wissenschaftlerin. Sie hat Nautik studiert und wurde im Juni 2019 als «Flüchtlings-Kapitänin» bekannt, weil sie mit der Sea-Watch 3 nach einer dreiwöchigen Irrfahrt mit 40 Geflüchteten an Bord auf Lampedusa anlegte. Im vergangenen Jahr bestätigte der Oberste Gerichtshof Italiens, dass Racketes anschliessende Verhaftung nicht rechtmässig war.

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