Das gefährliche Schweigen Israels zum Gaza-Krieg
Was kommt nach der Hamas?

Israel will in Gaza einmarschieren und die Hamas eliminieren. Und dann? Eine klare Exitstrategie aus dem Krieg fehlt Israel bislang. Experten erklären, warum die Lösung des Konflikts so schwer ist, und wie die Zukunft Gazas aussehen könnte.
Publiziert: 23.10.2023 um 18:03 Uhr
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Aktualisiert: 24.10.2023 um 16:37 Uhr
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Myrte MüllerAussenreporterin News

Die «Operation der eisernen Schwerter» hat klare Ziele, eine genaue Exitstrategie enthält sie aber offenbar nicht. Das israelische Militär will die Infrastruktur der Hamas im Gazastreifen zerstören, die Terrororganisation eliminieren und, so die Hoffnung, Geiseln befreien. «Was uns die Hamas angetan hat, verlangt eine Behandlung wie von Nazis», erklärt Brigadegeneral Amir Avivi (54) gegenüber Medien. Es werde vermutlich einige Monate dauern, «den ganzen Gazastreifen zu säubern. Es wird nichts von der Hamas übrigbleiben», sagt der Israeli.

Doch was passiert, wenn die Mission gelingt? Was kommt nach der Hamas? Verteidigungsminister Yoav Galant (64) spricht von einer neuen Sicherheitsrealität, bei der Israel keine Verantwortung übernehme. Wie diese ausschauen könnte, lässt er aber offen.

Israel zieht Panzer und Truppen in Sderot an der Grenze zu Gaza zusammen. Israel wird weiterhin von der Hamas angegriffen und antwortet mit intensivem Raketenbeschuss.
Foto: IMAGO
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Die Bodenoffensive wird noch mehr Opfer fordern

Seit dem Terror an Israelis am 7. Oktober bombardiert das Militär Stützpunkte der Hamas, wird Israel kontinuierlich mit Raketen aus Gaza beschossen. Die Gefechte mit der Hisbollah im Norden nehmen zu. Auch im Westjordanland kämpft Israel gegen Zellen der Hamas und des Islamischen Dschihads.

Die Kollateralschäden des Kriegs sind schon jetzt enorm: 6000 Tote und 22'000 Verletzte, meist Zivilisten, Städte in Trümmern, über 600'000 palästinensische Flüchtlinge in Süd-Gaza, grösstenteils ohne Strom, Wasser, Nahrung und Medikamente. Eine Bodenoffensive würde noch viel mehr Opfer fordern und den Zorn der arabischen Bevölkerung weiter anheizen. Der Iran droht offen mit Intervention.

Zum Abschied drückt sie dem Hamas-Kämpfer die Hand
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Zwei Geiseln freigelassen:Zum Abschied drückt sie dem Hamas-Kämpfer die Hand

Ein Flächenbrand würde die USA und auch westliche Staaten wie Grossbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland möglicherweise mit in den Krieg ziehen. US-Präsident Joe Biden (80) warnte Israel bereits, sich nicht von der Wut steuern zu lassen und nicht die gleichen Fehler wie die Amerikaner nach den Anschlägen vom 11. September 2001 zu begehen. Er drängt zu mehr humanitärer Hilfe und zur Schonung der palästinensischen Bevölkerung, warnt vor einer Besetzung des Gazastreifens durch israelisches Militär.

Grosse Sorge um die Zukunft

Das Dilemma wird auch beim heitigen Treffen der EU-Aussenminister in Luxemburg deutlich. Während der EU-Auslandsbeauftragte Josep Borrell (76) eine sofortige Waffenruhe fordert, steuert Berlin dagegen. Die zweite grosse Sorge ist die Zukunft von Gaza. Sowohl die EU als auch die USA drängen auf eine Zweistaatenlösung.

«Israel konzentriert sich auf seine Strafaktion», sagt Walter Posch von der Landesverteidigungsakademie in Wien zu Blick, «es gilt, die Hamas so nachhaltig wie möglich zu schwächen. Danach könnte der Gazastreifen international verwaltet werden». Wie das genau ausschauen würde, da lasse sich Israel nicht in die Karten schauen, so der Islamwissenschaftler. Eine wichtige Frage sei zudem: «Wer soll den Wiederaufbau bezahlen?»

Internationales Sicherheitsregime in Gaza

In der ARD-Talkrunde von Anne Will (57) am Sonntagabend schätzt der israelische Botschafter in Deutschland, Ron Prosor (65), dass 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung die Terrororganisation unterstützen. Auch wenn die Hamas ausgeschaltet würde, könnten sich schnell neue Terrorzellen bilden. Der Hass auf Israel ist tief verwurzelt.

Auch Nahostexperte Peter Lintl (41) rätselt über die Exitstrategie Israels. «Ich glaube, sie wissen nicht genau, was mit dem Gazastreifen nach einem Ende der Hamas geschehen soll», vermutet der Politikwissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. «Welche Akteure würden dieses neue internationale Sicherheitsregime übernehmen? Vielleicht über ein UN-Sicherheitsmandat?»

Diplomatische Lösungen seien unterdessen in weite Ferne gerückt, so Peter Lintl. Eine Zweistaatenlösung sei zurzeit kaum noch möglich. «Die letzten Umfragen haben gezeigt, dass nur 30 Prozent der palästinensischen Bevölkerung, aber auch der israelischen, an eine Zweistaatenlösung glauben.» Und die arabischen Nachbarn seien ohne politischen Horizont, so Lintl weiter. Die Situation sei im Moment zu verfahren, um wirklich Hoffnung zu haben.

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