Die älteste Demokratie der Welt wankt
Amerika versinkt im Chaos

Der Ex-Präsident darf für 2024 auf die Schützenhilfe aus dem Obersten Gerichtshof hoffen. Joe Biden muss zittern. Amerika steuert auf eine chaotische Phase zu.
Publiziert: 06.07.2022 um 18:20 Uhr
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Aktualisiert: 09.06.2023 um 11:42 Uhr
  • Tote bei Schiesserei am Nationalfeiertag
  • Supreme Court wird immer radikaler
  • Trump hofft auf Machtergreifung
Samuel Schumacher

Hunderte Menschen feierten die US-amerikanische Unabhängigkeit in Highland Park, einem Vorort von Chicago, als plötzlich Schüsse fielen. Panik brach aus. Sechs Menschen wurden getötet, 36 weitere verletzt, darunter mehrere Kinder.

US-Präsident Joe Biden (79) rief die Nation unmittelbar danach zur Einheit auf. Sagte in einer Ansprache zum US-Nationalfeiertag am 4. Juli, man befinde sich in einem «ständigen Kampf um die Seele Amerikas». Bloss: Das Land steuert auf eine chaotische Phase zu, der Präsident reagiert fast hilflos. Die Probleme, vor denen er steht, werden grösser – auch weil Ex-Präsident Donald Trump (76) mit der Rückkehr ins Weisse Haus liebäugelt.

Schützenhilfe aus dem Obersten Gerichtshof

Ganz unverblümt sagte die russische TV-Moderatorin Olga Skabejewa (37) Anfang Woche in einer Live-Sendung: «Wir müssen uns überlegen, ob wir Trump wirklich noch einmal als US-Präsident installieren wollen.»

Sechs der neun Richter am Obersten Gerichtshof stimmen derzeit stramm konservativ.
Foto: AFP
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«Werden überlegen, ob wir Trump wieder als Präsidenten einsetzen»
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Russisches Fernsehen:«Werden überlegen, ob wir Trump wieder als Präsidenten einsetzen»

Dass Donald Trump bei seiner Wahl ins mächtige Amt vor sechs Jahren Schützenhilfe aus den Hacker-Kellern und Propaganda-Stuben des Kreml erhielt, ist laut amerikanischen Geheimdiensten längst erwiesen.

Doch die Verstimmung auf der russischen Seite – Trump soll laut dem russischen Staatssender damit gedroht haben, Russland zu zerstören – dürfte dem Republikaner egal sein. Wenn er 2024 tatsächlich noch einmal antreten wird, darf er auf andere Hilfe hoffen: Der Oberste Gerichtshof der USA könnte ihm womöglich den Weg zurück ins Weisse Haus ebnen.

Richter nehmen Wahlgesetz ins Visier

Im Herbst entscheiden die neun auf Lebzeit ernannten Richterinnen und Richter nämlich über den Fall Moore vs. Harper, der die US-Demokratie endgültig ins Wanken bringen könnte. Kommt der Fall beim Supreme Court durch, würde die mächtigste Demokratie der Welt faktisch auf den Kopf gestellt.

Die Gerichte in den einzelnen Bundesstaaten dürften sich dann nicht mehr in Wahlangelegenheiten einmischen. Etwa dann, wenn das lokale Parlament aus politischem Kalkül Wahlkreise neu ziehen, Wahlgesetze abändern oder das Wahlrecht einzelner Gesellschaftsgruppen einschränken will.

Wie wichtig die richterliche Kontrolle bei diesen Wahlfragen für das Überleben der US-Demokratie ist, zeigte sich im Nachgang der letzten US-Wahlen. Nicht weniger als 62 Gerichtsprozesse hat der unterlegene Trump lanciert, um Fälle von mutmasslicher Wahlfälschung durch die Demokraten aufzudecken. 61 dieser Fälle wurden abgewiesen. Ohne das Zutun der Gerichte hätte Trumps Mär von den «gestohlenen Wahlen» wohl im einen oder anderen Lokalparlament verfangen – mit womöglich verheerenden Folgen für die amerikanische Demokratie.

Abtreibung, Waffengesetze und Umweltsünder

Die konservative Mehrheit am neunköpfigen Supreme Court scheint derzeit durchaus in Umsturz-Laune. Alleine in den vergangenen zwei Monaten hat das Gericht einen fast 50 Jahre alten Entscheid zum Recht auf Abtreibung gekippt, was bereits in 13 Bundesstaaten zu Abtreibungsverboten geführt hat. Dazu lockerten die hohen Richter die ohnehin schon laschen Waffengesetze, erschwerten den Kampf gegen Umweltsünder im Energiesektor und kratzten an der Trennung von Kirche und Staat, indem sie entschieden, dass öffentliche Gebete an allen Schulen wieder erlaubt sein sollen.

Die Entscheide sind absolut im Sinne von Trump. Die solide 6-zu-3-Mehrheit der Konservativen am Obersten Gericht gestaltet das Land auch anderthalb Jahre nach seinem Auszug aus dem Weissen Haus ganz nach seinem Gusto um. Das ist zu grossen Teilen Trumps Verdienst: Drei der sechs konservativen Richter am Supreme Court verdanken ihre Ernennung dem Republikaner. US-Präsident Joe Biden sind bei all den Entwicklungen faktisch die Hände gebunden.

An Trumps anhaltendem Einfluss auf den Gang der Dinge in Amerika ändern auch die derzeit laufenden Polit-Shows nichts, die das demokratisch-dominierte Sonderkomitee zur Untersuchung der Vorkommnisse am 6. Januar 2021 veranstaltet. Ehemalige Mitarbeitende von Trump haben zwar aufsehenerregende Details über die Rolle des US-Präsidenten beim Sturm auf das Kapitol ausgeplaudert: So soll Trump versucht haben, sich selbst ans Steuer seiner Präsidenten-Limo zu setzen, um mit den Demonstrierenden Richtung Kapitol zu ziehen. Später soll er im Weissen Haus wutentbrannt sein Zmittag an die Wände geworfen haben.

Mehrheit will Biden weg haben

Doch politischen Schaden genommen hat der Ex-Präsident deswegen nicht wirklich. 80 Prozent der Republikaner stehen nachwievor hinter ihm. Die meisten Umfragen sehen ihn in einem theoretischen Rennen gegen Joe Biden vorne.

Gleichzeitig gehen in den USA erneut die Diskussionen über Bidens Alter los. Im November wird der Präsident 80. Vor Kurzem kippte er vor laufenden Kameras mit seinem Velo um. Und immer wieder fällt er mit wirren Aussagen auf. So betonte er bei einer Podiumsdiskussion kürzlich, sich betrunken ans Steuer zu setzen sei kein Vergehen.

Laut einer Umfrage des Instituts Harvard Caps wünschen sich 71 Prozent der Amerikaner, dass Biden 2024 nicht mehr antritt. Eine valable Alternative ist auf demokratischer Seite allerdings noch nirgendwo zu sehen. Trump dürfte sich in seiner sonnigen Wahlheimat Florida zufrieden die Hände reiben.

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