Die baltischen Staaten betrachten die Gefahr einer Invasion als gebannt – dennoch fürchten sie Putins Provokationen
«Russland hat gar keine Kraft mehr für einen Krieg gegen die Nato»

Vor der Invasion in die Ukraine fürchteten sich auch die baltischen Staaten vor einem Angriff der Russen. Jetzt, wo Putins Armee herbe Verluste erleidet, atmen sie auf.
Publiziert: 08.03.2022 um 00:28 Uhr
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Aktualisiert: 08.03.2022 um 08:21 Uhr
Guido Felder

Die russische Aggression in der Ukraine hat die umliegenden Länder in Angst versetzt. «Wenn die Ukraine heute fällt, steht Putin morgen vor unserer Tür», sagte Litauens Staatspräsident Gitanas Nauseda (57) nach Beginn der russischen Invasion in die Ukraine. Er hat daher – vorläufig bis zum 10. März – den Ausnahmezustand verhängt.

Trotz Nato- und EU-Mitgliedschaft fürchteten viele Litauer, dass Putin auch ihr Land angreifen könnte – und zwar vor den andern beiden baltischen Staaten Estland und Lettland. Denn Litauen liegt den Russen im Weg, wenn sie zur Exklave Kaliningrad an der Ostsee fahren wollen.

In Kaliningrad befindet sich eine grosse russische Militärbasis mit Raketen und Atom-U-Booten. Reichweite bis zur strategisch wichtigen schwedischen Insel Gotland: nur gerade 300 Kilometer. Bis Berlin: 500 Kilometer.

Trotz Nato- und EU-Mitgliedschaft fürchteten viele Litauer, dass Putin auch ihr Land angreifen könnte – und zwar vor den andern beiden baltischen Staaten Estland und Lettland.
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Viele litauische Keller wurden zu Bunkern umfunktioniert, Litauer überlegten sich laut Medienberichten sogar, das Land jetzt schon zu verlassen.

Wie schon bei der Ukraine könnte Putin den Litauern «Genozid» vorwerfen, um einen Vorwand für eine Provokation zu finden. In Litauen gibt es eine russische Minderheit, die etwa fünf Prozent ausmacht. Sie verlangen beim Arzt nach Sputnik-Impfstoff und haben gejubelt, als Putin 2014 die Halbinsel Krim annektierte.

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Terroranschläge möglich

Vytautas Bruveris (48), bekannter Politkommentator der grössten litauischen Zeitung «Lietuvos Rytas», bestätigt gegenüber Blick, dass die Litauer besorgt sind. Das zeige sich deutlich beim Einkaufen. «In Geschäften und an Tankstellen gibt es Schlangen, weil sich viele mit Notvorräten eindecken und ihr Auto volltanken wollen», sagt er zu Blick.

Vor dem Startschuss zur Invasion in die Ukraine hatte Bruveris noch befürchtet, dass Russland die Zuglinie, die von Belarus durch Litauen nach Kaliningrad führt, in seine Gewalt bringen könnte. Damit hätte sich Putin einen Landweg zur Exklave verschaffen können.

Heute glaubt Bruveris eher an Provokationen an der Grenze zu Litauen oder zu Polen, wo viele Flüchtlinge Schutz suchen. «Hier könnte es zu terroristischen Anschlägen oder auch hybriden Attacken kommen», schätzt er.

Putins Armee «blutet aus»

An eine kurzfristige Invasion in Litauen – «mit vollem Programm» wie in der Ukraine – glaubt er nicht mehr. Mit der Aufrüstung in Osteuropa habe die Nato bewiesen, dass sie bereit sei, auch die baltischen Staaten zu verteidigen. Bruveris: «Zudem blutet die russische Armee zurzeit in der Ukraine aus. Sie hat gar keine Kraft mehr für einen Krieg gegen die Nato.»

Auch Kaja Kallas (44), Premierministerin von Estland, sieht die Gefahr vorderhand abgewandt. In einem Interview mit dem «Spiegel» sagte sie am Wochenende über Putin: «Ja, ich glaube, er blufft. Wir sehen im Moment einfach keine Anzeichen für eine Eskalation hier, er hat auch nicht die Fähigkeiten dafür.»

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USA schicken noch mehr Soldaten

Doch die russische Bedrohung bleibt längerfristig bestehen. «Die sich verschlechternde Sicherheitslage im Baltikum bereitet uns grosse Sorgen», sagte der litauische Staatspräsident Gitanas Nauseda. Russlands «rücksichtslose Aggression gegen die Ukraine» zeige einmal mehr, dass es eine langfristige Bedrohung für die europäische Sicherheit sei.

Die Nato bekräftigte am Montag ihre Bereitschaft, das Baltikum zu verteidigen. Die USA hatten nach dem russischen Angriff auf die Ukraine rund 7000 Soldaten nach Europa verlegt, nun sollen weitere 400 nach Litauen entsandt werden.

US-Aussenminister Antony Blinken (59) versicherte den baltischen Staaten die Solidarität der USA. Die Nato-Verpflichtung zu gegenseitigem Beistand sei «unantastbar».

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