Diese Nachricht überrascht die Welt
Warum Putin plötzlich einen Waffenstillstand will

Der russische Präsident will den Krieg in der Ukraine entlang der aktuellen Front einfrieren. Das wäre nicht nur für die Ukraine eine Katastrophe, sondern würde in ganz Europa einen neuen Kalten Krieg auslösen. Eine Analyse.
Publiziert: 24.05.2024 um 13:55 Uhr
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Aktualisiert: 24.05.2024 um 14:42 Uhr
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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Wladimir Putin (71) will den Krieg in der Ukraine beenden und die Grenzen an der aktuellen Front einfrieren. Das bestätigen vier hochrangige russische Quellen gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Der russische Präsident wolle eine neue Mobilisierungswelle unter allen Umständen verhindern. Ohne neue Kräfte aber könne er keine bedeutenden Fortschritte mehr erzielen. Zudem glaube Putin, er könne die bisherigen Kriegsgewinne gegenüber dem russischen Volk als Sieg verkaufen.

Die Nachricht kommt mehr als zwei Jahre nach Russlands brutalem Überfall wie aus dem Nichts. Die Situation auf dem Schlachtfeld sieht alles andere als schlecht aus für die Russen. Sie haben 18 Prozent des ukrainischen Territoriums erobert und zuletzt erstaunliche Fortschritte nahe Charkiw, der zweitgrössten Stadt der Ukraine, gemacht. Doch es gäbe gute Gründe für Putin, genau jetzt den Waffenstillstand ins Gespräch zu bringen.

Vorneweg: Was Putin jetzt vorschlägt, unterscheidet sich frappant von den heuchlerischen Verhandlungsangeboten, die Moskau der Ukraine in den vergangenen Monaten immer wieder unterbreitet hatte. Ein Waffenstillstand entlang der aktuellen Front würde die Kriegshandlungen mindestens vorübergehend komplett zum Stillstand bringen – ähnlich wie auf der koreanischen Halbinsel, wo sich Nordkorea und Südkorea seit dem geschlossenen Waffenstillstand 1953 feindlichen Blickes, aber ohne scharfe Schüsse gegenüberstehen.

Wladimir Putin hat genug vom Krieg.
Foto: keystone-sda.ch
Wladimir Putin hat genug vom Krieg.
Foto: keystone-sda.ch
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Warum Selenski nicht auf den Vorschlag eingehen wird

Die gängigen Kriegstheorien besagen, dass ein Waffenstillstand erst dann zu einer valablen Option wird, wenn keine der beiden Seiten in einem Konflikt weiter in der Lage ist, mit militärischen Mitteln Siege zu erringen. Von diesem Punkt sind sowohl Kiew, das in den kommenden Monaten US-Waffen im Wert von 61 Milliarden Dollar erhält, als auch Moskau weit entfernt.

Putins Wunsch nach einem Waffenstillstand erstaunt aber auch aus einem anderen Grund: Die vier Provinzen Kherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk, die Russland im September 2022 in einem völkerrechtswidrigen Entscheid offiziell zu russischen Territorien erklärt hatte, sind militärisch noch nicht komplett erobert. Sprich: Wenn Putin die Waffen jetzt ruhen lassen will, dann käme das einem Eingeständnis gleich, dass er nicht einmal die von ihm beanspruchten neuen russischen Provinzen unter Kontrolle hat.

Die Ukraine wird Moskaus Vorschlag nicht annehmen. An Putins Friedenspfeife will Wolodimir Selenski (46) nicht ziehen. Das hat der ukrainische Präsident immer und immer wieder betont. Sein Zehn-Punkte-Friedensplan, um den es auch an der Schweizer Friedenskonferenz auf dem Bürgenstock Mitte Juni gehen wird, hält glasklar fest: Ohne Abzug sämtlicher russischer Truppen vom gesamten ukrainischen Territorium (inklusive der Krim) wird nicht mit Moskau verhandelt. Noch 2022 liess Selenski Verhandlungen mit Russland vor dem militärischen Sieg über Moskau per Gesetz verbieten.

Für Europa bedeutet das: Der Kalte Krieg ist zurück

Ein Waffenstillstand entlang der aktuellen Front, die quer durch das ukrainische Staatsgebiet verläuft, würde zu einem eingefrorenen Konflikt führen, auf dessen Basis kein stabiler Frieden und schon gar keine nachbarschaftlichen Annäherungen stattfinden könnten. Man stelle sich vor, Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni (47) würde mit ihrer Armee das Tessin erobern und dann gegenüber Bundespräsidentin Viola Amherd (61) einen Waffenstillstand vor dem Gotthardtunnel vorschlagen. Würde das irgendjemand in der Schweiz akzeptieren?

Am Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos sagte Selenski im Januar mit Verweis auf die Gefahr eines eingefrorenen Konfliktes glasklar: «Putin wird sich nicht mit Gefrierprodukten zufriedengeben, niemals.» Wenn Putin einen Waffenstillstand einfordere, dann nur, um seine angeschlagenen Truppen neu zu formieren und mit frischen Kräften wieder anzugreifen. Ein eingefrorener Konflikt in der Ukraine wäre also nicht nur für das angegriffene Land selbst eine riesige Last. Auch für das restliche Europa bliebe die Situation auf Jahre, vielleicht Jahrzehnte hinaus extrem angespannt. Für uns alle bräche ein neuer Kalter Krieg aus. 

Der ukrainische Militärexperte Yevhen Semekjin (38) sagt gegenüber Blick: «Es wird keinen Waffenstillstand geben. Die Russen halten sich nie an ihr Wort. Das wissen wir seit der Eroberung der Krim 2014.» Wer Putin jetzt voreilig glaube, der solle sich an den Februar 2022 erinnern, als der russische Präsident noch wenige Tage vor dem Angriff gesäuselt habe, man werde die Ukraine niemals attackieren.

Putins Vorschlag wird Kiew nicht zum Innehalten zwingen. Im Westen aber, wo die anfänglich ungebrochene Solidarität mit der Ukraine seit längerem serbelt und mehrere Regierungschefs – darunter Ungarns Viktor Orban (60) und der slowakische Ministerpräsident Robert Fico (59) – für ein rasches Ende des Krieges plädieren, könnte der neue Vorschlag für weiteren Unmut gegenüber der weiterkämpfenden Ukraine sorgen. Umso grösser wird der Druck natürlich, sollte der Republikaner Donald Trump (77) im November die amerikanischen Wahlen gewinnen.

Steckt Chinas Präsident Xi hinter allem?

Bleibt die Frage, warum Putin ausgerechnet jetzt die Raketen ruhen und den Krieg nach seinem Gusto beenden will. Die Situation auf dem Schlachtfeld ist es offenkundig nicht. Die Angst vor einem durchschlagenden Erfolg des Schweizer Bürgenstock-Gipfels, der Moskau massiv unter Druck setzen könnte, wird es kaum sein. Bleibt einzig die Erklärung, dass ihm der chinesische Präsident Xi Jinping (70) bei Putins Staatsbesuch in Peking Anfang Woche ins Gewissen geredet hat.

Ohne die chinesische Rückendeckung wäre Putin im Nu schachmatt. Und Xi kam kurz vor seinem Putin-Empfang zurück von einer Europa-Reise, auf der er unter anderem bei Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (46) gastierte. Macron ist derzeit der lautstärkste Unterstützer der Ukraine. Dass die beiden beim Dinner in Paris auch über den Krieg gesprochen haben, ist fast garantiert. Hat Macron Xi überzeugen können? Und hat Xi Putin mitgeteilt, er werde ihn trotz der vordergründigen «ewigen Freundschaft» der beiden Länder bald fallenlassen?

Mehr als Spekulationen über die Hintergründe von Putins überraschendster Wende seit Kriegsausbruch gibt es derzeit nicht. Nur eines ist garantiert: Die Ukraine wird auf den russischen Bluff nicht hereinfallen.

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