So sieht Mailands Chinatown aus
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Italianità und China-Tradition:So sieht Mailands Chinatown aus

Drehscheibe für Billigware, verdrängte Traditionsgeschäfte und Streetfood
Mailands Chinatown ist ein hartes Pflaster

Seit über 100 Jahren leben Chinesen in der Innenstadt: Mailands Chinatown zählt zu den grössten Europas. Hier wird über eine Milliarde Euro im Jahr umgesetzt.
Publiziert: 01.05.2023 um 01:44 Uhr
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Aktualisiert: 02.05.2023 um 12:25 Uhr
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Myrte MüllerAussenreporterin News

Kein Drachentor, kein roter Laternenhimmel. Im Gegensatz zu den berühmten Chinatowns von New York oder San Francisco sind die Grenzen im Herzen Mailands unspektakulär fliessend zwischen Italianità und chinesischer Tradition.

Von einer Gasse in die andere wechseln die Auslagen. Bunte Kleidung, Glitzer-Krimskrams, Elektro-Artikel, Handy-Zubehör. Und jede Menge exotische Imbissbuden. Chinesische Schrift zieht sich über die Fassaden der alten Gebäude, prangt über den unzähligen kleinen Shops. Der Geruch von Bratöl hängt in der Luft. Wo einst italienisches Qualitätshandwerk zu Hause war, locken heute asiatische Billigware und würziges Streetfood Tausende von Touristen und Einheimischen in die Gassen rund um die Via Paolo Sarpi. Pizza und Pasta sind längst Szechuan Hot Pot, frittierten Sesambällchen, Ramen-Suppen und Dampfnudeln gewichen.

Chinatown ist hart umkämpft

Auch Vera (77) und Willy Baumgartner (65) bummeln durch die Fussgängerzone. Die beiden Deutschen haben eine Ferienwohnung in Capolago TI. Mailand ist vom Südtessin nur eine Stunde mit dem Auto entfernt. «Wir kannten Chinatown noch nicht, wollten hier etwas essen gehen», sagt die pensionierte Lehrerin zu Blick. «Wir waren ein wenig enttäuscht. Vieles wirkt doch heruntergekommen.» Ein wenig mehr chinesischen Pomp hatte das Ehepaar ebenfalls erwartet.

Geschäftsmann Stephane Hu ist Präsident des chinesischen Unternehmerverbandes in Italien und repräsentiert die jungen, erfolgreichen Auslandschinesen der zweiten und dritten Generation.
Foto: www.steineggerpix.com
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Mailands Chinatown ist kein Disneyland. Es ist ein hart umkämpftes Pflaster. Chinesische Händler erwirtschaften eine Milliarde Euro im Jahr und sichern in der Metropole 5000 Arbeitsplätze. Die 30'000-köpfige chinesische Community kennt auch jede Schattenseite: illegale Prostitution, Geldwäsche, Schutzgelderpressung, Drogenhandel. Kriminalität, die ausschliesslich in der «Familie» bleibt. Der jüngste Vorfall geschah am Ostermontag. In einem China-Restaurant wurde ein 25-Jähriger von einem Landsmann niedergestochen.

Die Drehscheibe des Big Business war und ist die Mailänder Chinatown. Sie ist fest in der Hand von Auslandschinesen, vornehmlich aus der südchinesischen Provinz Zhejiang. Die meisten Familien stammen aus der Handelsstadt Wenzhou, heute Zentrum der chinesischen Textil- und Schuhproduktion.

Streetfood statt Traditionsunternehmen

Vor 100 Jahren flohen die ersten Einwanderer vor der Armut aus China. Heute fahren immer mehr Chinesen im teuren Tesla herum und ihre Wohnungen im Viertel kosten mittlerweile zwischen 8000 und 10'000 Euro pro Quadratmeter. Chinatown hat eigene Zeitungen, ein medizinisches Zentrum, Hotels und Reisebüros – ausschliesslich für Chinesen.

Fast alle Läden im geschäftigen Gassengewirr sind chinesisch. «Wo heute die Oriental Mall ist, war früher ein italienischer Buchhandel», erklärt der Mailänder Pier Franco Lionetto (80). «Igor, der Orthopäde, hat nun auch aufgegeben. Wir haben kaum noch Bäckereien.» Selbst die Traditionsmetzgerei hat jetzt, 70 Jahre nach ihrer Gründung, das Geschäft an die Chinesen verkauft. Obwohl nur jeder zehnte Bewohner von Chinatown Chinese ist, beherrschen die Asiaten das Viertel. «Die meisten von ihnen leben am bezahlbaren Stadtrand und kommen zur Arbeit hierher», sagt der Pensionär.

Jeden Tag LKWs in den engen Gassen

Pier Franco Lionetto kennt Chinatown ganz genau. Er ist im Viertel aufgewachsen und seit 24 Jahren Präsident von Vivi Sarpi. Die Bürgerbewegung wurde 1999 gegründet, als der chinesische Grosshandel das Viertel zu überrollen begann. Anfang des vorigen Jahrhunderts haben die Chinesen noch Seidenkrawatten und Ledergürtel hergestellt. Vor 20 Jahren kam es zu einer neuen Einwanderungswelle. Keine Armutsflüchtlinge. Die neuen Chinesen haben Geld, übernehmen ganze Strassenzüge und nutzen weit über 300 Läden als Warenlager. Zeitgleich kaufen sie europaweit Marktstände. «Sie lagerten ihre aus China importierten Sachen in unserem Viertel, verkauften sie aber europaweit», sagt Lionetto. «Den ganzen Tag lang fuhren LKWs und Lieferwagen durch die Gassen.» Das habe viele Bürger verärgert.

Als die Stadtverwaltung den LKW-Verkehr auf gewisse Uhrzeiten einschränkte, kam es im April 2007 zu einer chinesischen Revolte. Drei Jahre später verwandelte die Mailänder Regierung das Viertel in eine Fussgängerzone. Der Grosshandel wurde in andere Stadtteile verdrängt. «Seitdem geht es viel besser», sagt Lionetto. «Jetzt haben wir auf der Streetfood-Meile allenfalls ein Abfall-Problem.» Richtig warm geworden seien die Mailänder mit der chinesischen Community allerdings nie. «Die Chinesen sind sehr verschlossen. Viele Ältere sprechen kaum Italienisch. Sie bleiben unter sich», sagt Lionetto.

Der Urgrossvater von Stephane Hu (39) floh einst nach Mailand. Hu selber ist in Frankreich aufgewachsen und lebt seit Jahren in Italien. Er ist Geschäftsmann und Präsident des Handelsverbands chinesischer Unternehmer in Italien (UNIIC). «Die Chinesen der zweiten und dritten Generation sprechen Italienisch wie die Einheimischen. Sie kennen die europäische Kultur gut. Viele studieren an den Universitäten. Einige werden Juristen oder Ärzte und machen keine Geschäfte mehr. Ich denke, die junge Generation wird sich zunehmend gut integrieren. Sie wird Teil der Gesellschaft werden, wie schon heute in den USA.»

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