Epstein-Skandal vor einem Jahr aufgedeckt
Die mutigen Opfer erheben ihre Stimme

Vor einem Jahr deckte eine US-Journalistin das Missbrauchskartell um Jeffrey Epstein (†66) auf. Seither war viel die Rede von den Tätern. Der Fall zeigt, wie schwierig es ist für Opfer sexueller Gewalt Gerechtigkeit zu erfahren. Zeit den Frauen zuzuhören.
Publiziert: 30.11.2019 um 14:42 Uhr
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Aktualisiert: 30.11.2019 um 15:43 Uhr
Aline Wüst

Virginia Roberts Giuffre (36) ist Mutter dreier Kinder. Und sie weigert sich, weiterhin zu schweigen. Genauso wie Teala Davis, Jennifer Araoz, Chauntae Davies und Courtney Wild. Was diese Frauen verbindet, ist ihr Mut. Und die Tatsache, dass sie als Kinder oder junge Frauen missbraucht wurden. Von Jeffrey Epstein. Einem Multimillionär mit Privatinsel, eigenen Flugzeugen und bekannten Freunden.

Diese Frauen haben weder Privatinsel noch einflussreiche Freunde. Zur Tatzeit waren sie Mädchen – aus schwierigen familiären Umständen, in prekären finanziellen Verhältnissen. Sie leiden noch immer unter den Folgen des Missbrauchs. Schwiegen lange aus Angst und Scham. Und als sie sprachen, wurden sie Lügnerinnen genannt. Es ist Zeit, ihnen zuzuhören.

Zum Beispiel wenn Chauntae Davies erzählt, was passiert ist:

Jeffrey Epstein (†66) nahm sich am 10. August das Leben. Die Frage ist nun: Wer von seinen vielen einflussreichen Freunden wusste von dem, was er tat? Und wer war beteiligt daran?
Foto: AFP
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«Ich begann meine Massage und versuchte, meine Angst nicht zu zeigen. Bevor ich wusste, was passierte, packte er mich an den Handgelenken und zerrte mich zum Bett. Ich versuchte, mich zu wehren, aber er öffnete meine Shorts und zog meinen Körper schneller an sich, als ich reagieren konnte. Ich suchte nach Worten, aber alles, was ich sagen konnte, war: ‹Nein, bitte hör auf.› Aber das schien ihn nur noch mehr zu begeistern.»

Wenn Jennifer Araoz erzählt, was der Missbrauch anrichtete:

«Er hat mich meiner Träume beraubt. Er raubte mir die Chance, eine Karriere zu verfolgen, die ich liebte. Er stahl mir die Chance, echte Liebe fühlen zu können, weil ich so viele Jahre Angst hatte, jemandem zu vertrauen. Ich wollte mein Haus nicht mehr verlassen.»

Wenn Teala Davis erklärt, warum sie nicht länger schweigen will:

«Ich bin immer noch ein Opfer, weil ich Angst habe um meine Töchter und um die Töchter aller anderen. Ich fürchte um ihre Zukunft in dieser Welt, in der Raubtiere an der Macht sind. Einer Welt, in der Menschen Gerechtigkeit verhindern können, wenn ihre Geldtaschen tief genug sind.»

Und nun nach dem Tod Epsteins vor allem auch, wenn Virginia Guiffre sagt:

«Ich wurde von zahlreichen prominenten amerikanischen Politikern, mächtigen Wirtschaftsleuten, ausländischen Präsidenten, einem bekannten Premierminister und anderen Leuten der globalen Elite missbraucht. (…) Auch von Alan Dershowitz (einem der bekanntesten US-Strafverteidiger; Anm. d. Red.).»

Oder wenn Sarah Rasnome sich an die Justiz wendet:

«Bitte, bitte, bringen Sie zu Ende, was Sie begonnen haben. Er hat nicht allein gehandelt.»

Jeffrey Epstein (†66) hätte schon vor mehr als 20 Jahren gestoppt werden können. Bereits 1996 wandten sich die Schwestern Maria und Annie Foster an die Polizei und das FBI. Sie gaben an, von Epstein missbraucht worden zu sein, und sagten, dass wohl andere Mädchen ebenfalls davon betroffen seien. Es passierte nichts.

Party statt Konsequenzen

Epstein genoss sein ausschweifendes Leben, umgab sich mit seinen Freunden – unter ihnen auch der heutige US-Präsident Donald Trump (73) – und minderjährigen Mädchen. Sein Flugzeug trug den Übernamen Lolita Express. Vieles, was Rang und Namen hatte, flog mit diesem Flugzeug. Bill Clinton (73) 26-mal.

Epstein war ein Schulabbrecher aus einfachen Verhältnissen, bekam mit Anfang 20 trotzdem eine Stelle als Mathematiklehrer an einer der renommiertesten Schulen New Yorks. Direktor dieser Privatschule war Donald Barr (1921–2004) – der Vater des heutigen US-Justizministers William Barr (69). Epstein verlor den Job schon bald wieder. Angeblich wegen überzogener Aufmerksamkeit für Schülerinnen. Arbeitslos blieb er nicht.

Er erhielt einen Job bei einer Investmentfirma und gründete 1988 sein eigenes Finanzunternehmen. Es hatte nur einen Kunden: Leslie Wexner (82), Chef des Unterwäschekonzerns Victoria's Secret. Epstein bekam Vollmacht über alle seine Geschäfte und verdiente Hunderte von Millionen Dollar, verkehrte mit der amerikanischen Elite, lud sie auf seine gut abgeschirmten Anwesen ein. Immer wieder gab es Gerüchte um Minderjährige, die ebenfalls anwesend gewesen sein sollen – im Flugzeug, auf der Insel, in seinem Haus in Manhattan. Es passierte nichts. Bis 2005.

35 Opfer bereits 2009 bekannt

Die Stiefmutter eines Mädchens der Florida High School meldete sich bei der Polizei. Ihre Tochter sei von einer anderen Schülerin angeworben worden, einem reichen Mann gegen Geld eine Massage zu geben. Als sie dort war, musste sie sich ausziehen, und der Mann masturbierte. So ging Epstein immer wieder vor. Die Polizei ermittelte und fand 35 weitere potenzielle Opfer.

Doch dann passierte etwas Seltsames: Epsteins Anwälte handelten einen geheimen Deal mit dem Staatsanwalt aus. Epstein bekannte sich in zwei Fällen der Prostitution mit Minderjährigen schuldig (ist es Prostitution, wenn man einem Kind für seinen sexuellen Missbrauch Geld in die Hand drückt?), im Gegenzug wurde ihm zugesichert, den Fall nicht auf Bundesebene weiterzuziehen. 13 Monate war er im Gefängnis. Wobei er jeweils nur die Nacht dort verbrachte, morgens wurde er dann von seinem Chauffeur abgeholt.

Die Opfer wurden nicht über den Deal informiert. Sie waren in dieser Sache einzig fragwürdige Zeuginnen – oder eben: Prostituierte.

Der Staatsanwalt aber, der den skandalösen Deal ermöglichte, wurde später von Trump zum Arbeitsminister ernannt.

Epstein machte weiter

2010 war Epstein wieder frei. Nun zwar ein verurteilter Sexualstraftäter, zu stören schien das viele aber nicht. Auch nicht Prinz Andrew (59), der weiterhin Zeit mit Epstein und in dessen Häusern verbrachte. Einiges deutete darauf hin, dass er weitermachte. Eine Fluglotsin sagte einem US-Polizisten im Zuge der Ermittlungen in diesem Jahr, dass sie Epstein im Sommer 2018 auf den U.S. Virgin Islands aus seinem Flugzeug steigen sah – in Begleitung von zwei Mädchen. Sie schätze ihr Alter auf elf oder zwölf Jahre.

Ende 2018 veröffentlichte die Journalistin Julie K. Brown (58) von der «Miami Herald» eine Langzeitrecherche über Jeffrey Epstein. Was diese Journalistin unterscheidet von den Behörden: Brown nahm die Opfer ernst. 60 betroffene Frauen hatte sie bei der Veröffentlichung ihrer dreiteiligen Artikelserie bereits gefunden und mit ihnen gesprochen.

Im Juni darauf wurde Epstein verhaftet. Er plädierte auf unschuldig. Weitere Opfer meldeten sich. Am 10. August lag er tot in seiner Zelle. Die Wächter, die ihn überwachen mussten, waren beide eingeschlafen. Die Überwachungskamera lieferte keine brauchbaren Bilder. Die Behörden sprachen von Selbstmord. Ein renommierter, externer Forensiker wies darauf hin, dass es Anzeichen von Fremdeinwirkung gebe. Wie so oft war vieles seltsam. Fakt ist: Epstein ist tot. Damit ist das strafrechtliche Verfahren gegen ihn abgeschlossen.

«Er handelte nicht allein»

Die bereits terminierte Gerichtsverhandlung wurde nicht abgesagt. Stattdessen gaben die Richter den Opfern die Möglichkeit, sich zu äussern: 17 Frauen waren anwesend, weitere sechs liessen ihre Statements von Anwälten verlesen.

Sie waren wütend. «Epstein ist ein Feigling» sagte Courtney Wild, die schon seit vielen Jahren um Gerechtigkeit kämpft. Und eine der Frauen, die unerkannte bleiben wollte, sagte: «Nur weil Epstein tot ist, heisst das nicht, dass die anderen um ihn herum, nicht vor ein Gericht gestellt werden sollen.»

Einzelne Frauen haben in ihren Aussagen Namen bekannter Persönlichkeiten genannt, mit denen sie Sex haben mussten. Prinz Andrew ist nur einer von ihnen. Und sie verweisen auf viele andere Opfer. Virginia Guiffre beispielsweise: «Epstein, Andy, ungefähr acht andere Mädchen und ich hatten Sex miteinander. Die anderen Mädchen schienen alle unter 18 Jahren zu sein und sprachen kaum Englisch.»

Mit den Vorwürfen konfrontiert, schreien alle diese Männer nur: Lügen! Aber hat das Epstein nicht auch immer getan?

Eine Frau steht besonders im Fokus: Gishlaine Maxwell (57), die langjährige Partnerin von Epstein. Mehrere Opfer sagen, dass sie Mädchen rekrutiert habe, immer anwesend und teilweise am Missbrauch beteiligt gewesen sei. Maxwell ist nicht auffindbar. Auch sonst wurde im Zusammenhang mit dem Frauen- und Mädchenhandelsring, den Epstein und Maxwell aufgebaut hatten, noch keine Person einvernommen.

Opfer werden nicht schweigen

Der Fall Epstein ist in seinem Ausmass aufsehenerregend. In seinen Mechanismen ähnelt er jedem Fall von sexuellem Missbrauch: Es gibt ein Machtgefälle, die Opfer werden zum Schweigen gebracht durch Scham, Angst und Trauma, sie leiden still; finden sie endlich die Kraft, gegen die Täter aufzustehen, wird ihnen nicht geglaubt. Es ist ein Grund, weshalb so wenige Fälle von sexueller Gewalt zur Anzeige gebracht werden. Auch in der Schweiz.

Teala Davis sagte vorletzte Woche:

«Ich brauchte lange, um mich von seiner Kontrolle über meine Gedanken und vom Missbrauch zu befreien. Ich habe noch immer Flashbacks. Es schmerzt noch immer.»
Sie spreche nun öffentlich darüber, um als Beispiel voranzugehen und alle Opfer von sexuellem Missbrauch zu ermutigen, ihre Angst zu bekämpfen und sich jemandem anzuvertrauen.

Virginia Guiffre sagte in einem Videointerview mit der «Miami Herald»:

«Es brauchte eine lange Zeit, um den Heilungsprozess zu beginnen. Ich werde nie ganz heilen. (...) Ich musste Mutter einer Tochter werden und dieses wunderbare, unschuldige Mädchen anschauen, um zu sagen: Ich will jetzt öffentlich darüber reden. Denn egal, wie reich jemand ist, wie viele Macht er hat: Da draussen gibt es Frauen, die werden nun aufstehen und darüber sprechen. (...) Diese Typen werden am Ende bekommen, was sie verdienen. Wir Frauen werden nicht mehr einfach zuschauen, wie das passiert.»

Epstein und all die Männer und Frauen, die weggeschaut oder mitgemacht haben bei seinen Straftaten, dachten immer nur an sich selber. Die Frauen aber, die Opfer, sie stehen heute mutig auf. Nicht nur für sich selber. Auch für alle anderen Opfer von sexuellem Missbrauch und Frauenhandel weltweit.

Chauntae Davies machte im August klar: «Ich werde nicht aufhören zu kämpfen und nie mehr zum Schweigen gebracht.»

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