Erdbeben-Tragödie in Italien
Die kleinen Wunder in der grossen Katastrophe

Das grosse Beben überraschte die meisten Menschen im Tiefschlaf. Mit der Stärke 6,1 auf der Richterskala schüttelte es am Dienstag früh um 03.36 Uhr in Mittelitalien. Die Folgen sind katastrophal. Über 250 Menschen liessen ihr Leben, darunter viele Kinder.
Publiziert: 25.08.2016 um 19:28 Uhr
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Aktualisiert: 28.09.2018 um 23:05 Uhr
DARF NICHT MEHR VERWENDET WERDEN Mit vereinten Kräften: Retter können einen Mann aus den Trümmern ziehen.
Foto: Reuters
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Guido Felder

Amatrice, die «Stadt der 100 Kirchen», ist ein Trümmerhaufen. Bürgermeister Sergio Pirozzi sagt verzweifelt: «Drei Viertel des Ortes gibt es nicht mehr. Viele Menschen sind noch unter den Trümmern. Wir bereiten einen Ort für die Leichen vor.»

Für die Obdachlosen wurden Zeltstädte aufgebaut

Das Beben hat die ganze Region zwischen Umbrien, Latium und den Marken erschüttert. Besonders stark betroffen sind nebst Amatrice die Orte Accumoli, Arquata del Tronto, Pes­cara del Tronto, Amandola und Gualdo. Tausende sind obdachlos. Für sie werden Zeltstädte aufgebaut.

Im 667-Seelen-Dorf Accumoli suchten Retter nach einer Familie, die unter Trümmern lag. Der Fotograf Emiliano Grillotti berichtete: «Mindestens 15 Männer graben mit blossen Händen, um sie zu retten. Man hört die Schreie der Mutter und von einem der beiden Kinder.» Am Mittag waren die verzweifelten Schreie aus den Ruinen verstummt. Als die Retter Mutter, Vater und die kleinen Kinder fanden, waren sie tot.

«Ich bin wie durch ein Wunder gerettet worden»

Inmitten der grossen Zerstörung gibt es auch kleine Wunder. Medien zitieren einen Mann namens Marco. Der Angestellte der Stadtreinigung von Amatrice war eben aufgestanden, um sich auf den Weg zur Arbeit zu machen. «Zehn Sekunden genügten, dann war alles zerstört. Ich bin wie durch ein Wunder gerettet worden», sagte er zur Nachrichtenagentur Ansa.

Auch eine Familie aus Pescara del Tronto hatte grosses Glück. Als der Vater von einer Reise aus Rom zurückkehrte, fand er das Haus seiner Eltern zerstört vor. Dorthin hatte er seine Söhne zum Übernachten gebracht. Der Mann grub so lange in den Trümmern, bis er seine Buben befreien konnte. Einer war vollkommen unversehrt, der andere erlitt nur einige Kratzer.

Die Wände verschoben sich um einen Meter

Ein anderer Augenzeuge berichtet in der Zeitung «La Repubblica»: «Es war ein Albtraum. Wir wachten auf, als ­Möbel auf den Boden fielen und sich die Wände um einen Meter verschoben.» Ihm und seinen Angehörigen gelang es, das Haus zu verlassen. «Auf der Strasse sahen wir Menschen in Unterwäsche. Wir haben auf der grossen Piazza ein Feuer gemacht und uns dann aufgemacht, um die älteren Leute aus den Häusern zu holen.»

In Arquata del Tronto konnte eine Grossmutter zwei Brüder vor dem Erdbeben retten. Die kluge Frau war mit den kleinen Buben unter das Bett gekrochen. Nachdem das Haus eingestürzt war, konnten sich die drei unversehrt aus dem Schutt befreien.

Im gleichen Ort entdeckten die Bergungsleute eine alte Frau, die unter Trümmern eingeklemmt war. Sie bewegte leicht ihre blutende Hand, ihr Körper war voller Staub. Ein Helfer sprach ihr Mut zu: «Bleiben Sie ruhig und atmen Sie! Bald kommen die Retter, die Sie herausholen, ohne Ihnen wehzutun. Wenn Sie Wasser lassen müssen, lassen Sie es einfach laufen.»

«Der Albtraum ist wieder da»

Auch in den Bergen war das Beben mit aller Wucht zu spüren. Der Hüttenwart des Rifugio Franchetti auf 2433 Metern Höhe in dem Natio­nalpark Gran Sasso, wo schon 2009 die Erde bebte, schrieb auf ­Facebook: «Im tiefen Nebel hörten wir einen ohrenbetäubenden Krach. An der Ostwand des Corno Piccolo hat sich ein ganzes Bergstück gelöst. Der Albtraum ist wieder da.»

Italiens Regierungschef Matteo Renzi hat der vom Erdbeben betroffenen Region jegliche Unterstützung zugesagt. Er sagte: «Wir lassen niemanden alleine.» Papst Franziskus hat den vom Erdbeben in Mittelitalien be­troffenen Menschen sein tiefes Mitgefühl ausgesprochen. Er finde kaum Worte, seinen grossen Schmerz auszudrücken, sagte er gestern zu Beginn der Generalaudienz auf dem Petersplatz in Rom. «Den Bürgermeister von Amatrice sagen zu hören, dass der ganze Ort nicht mehr existiert, und zu wissen, dass unter den Opfern Kinder sind, hat mich sehr berührt.»

Keine Kenntnis von Schweizer Opfern

Das schweizerische Aussendepartement (EDA) hat derzeit keine Kenntnis von toten oder verletzten Schweizer Staatsangehörigen. Aussenminister Didier Burkhalter steht in Kontakt mit seinem italienischen Amtskollegen Paolo Gentiloni und hat ihm die Unterstützung der Schweiz angeboten. Bundespräsident Johann Schneider-Ammann drückte über Twitter sein Beileid aus. Die Schweiz sei nahe bei den Opfern des Erdbebens, schrieb er. Weiter sandte er einen Kondolenzbrief an Sergio Mattarella, den Präsidenten der Italienischen Republik.

Dieselbe Region wurde schon am 6. April 2009 von einem Erdbeben, das ungefähr die Stärke 6 hatte, getroffen. Dabei wurde die Stadt L’Aquila verwüstet. 309 Menschen starben, 70'000 wurden obdachlos. Beginn des Erdbebens damals: morgens um 03.32 Uhr. Fast zur gleichen Zeit wie gestern.

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