Experten erwarten Rechtsrutsch
Die EU vor ihrer grössten Herausforderung

Nach den Wahlen im Juni könnten viele Gegner der Europäischen Union in deren Parlament einziehen – und Brüssels schwierige Lage damit zusätzlich erschweren.
Publiziert: 28.01.2024 um 00:06 Uhr
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Aktualisiert: 28.01.2024 um 10:34 Uhr
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Chiara SchlenzAusland-Redaktorin

«Wir könnten ein Referendum über den Dexit abhalten – einen deutschen Austritt aus der EU.» Das stellte Alice Weidel (44), Co-Chefin der deutschen Rechtsaussenpartei AfD, jüngst im Gespräch mit der «Financial Times» in Aussicht. Der Brexit – der Abschied Grossbritanniens vom gemeinsamen Markt – sei «ein Modell für Deutschland». Weiter sprach Weidel von Demokratiedefiziten der EU und der Notwendigkeit, den Staatenbund zu reformieren.

Frank Decker (60), Politologe an der Universität Bonn, glaubt das zwar nicht: «Dexit auf der Agenda? Eher unwahrscheinlich.» Dennoch: Weidels Worte stossen bei grossen Wählergruppen auf Zustimmung. Viele Europäer sind unzufrieden mit der EU. Sehr unzufrieden.

Im Juni 2024 wird die EU ein neues Parlament wählen.
Foto: IMAGO/Panama Pictures
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Die EU zerfällt von innen – Experten ordnen die Gefahr ein.
Foto: Blick/Dall-E

Studie sagt Gewinne der Extremen voraus

Eine kürzlich veröffentlichte Studie des European Council on Foreign Relations (ECFR) zeichnet das Bild einer Europawahl, die nicht nur diese Unzufriedenheit abbildet, sondern tiefgreifende Fragen über die Zukunft der EU aufwerfen könnte. Das Institut sagt für den Urnengang vom 6. bis 9. Juni einen «heftigen Rechtsrutsch» voraus. Nicht nur rechter, auch anti-europäischer könnte das EU-Parlament nach dem Wahltermin sein.

Mit dem erwarteten Rechtsrutsch und dem Aufstieg euroskeptischer Kräfte steht die EU an einem Scheideweg, der weitreichende Konsequenzen für ihre Mitgliedsstaaten und Bürger haben könnte. Somit stellt sich die Frage: Stehen wir am Vorabend des Zerfalls der Europäischen Union?

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Der ECFR erwartet, dass die Mitte-rechts-orientierte Europäische Volkspartei (EVP), die Mitte-links-Sozialisten und Demokraten (S&D), die zentristische Renew Europe (RE) sowie die Grünen (G/EFA) – im Juni Sitze verlieren. Die radikalere Linksfraktion und vor allem die populistische Rechte einschliesslich der Europäischen Konservativen und Reformisten (EKR) und der rechtsextremen Partei Identität und Demokratie (ID) könnten zulegen.

Politologe Decker befürchtet, dass eine solche Verschiebung der politischen Kräfte die EU vor eine Zerreissprobe stellen wird. Eines der grössten Probleme: «Mit dem Wachstum rechts der EVP wird es schwierig sein, die EU weiter entwickeln zu können.» Die Wahrscheinlichkeit, dass populistische Fraktionen Entscheide des EU-Parlaments sabotieren, wird durch eine solche Entwicklung realistischer.

Populisten zanken sich untereinander

Steht die Europäische Union vor ihrem Ende? Für Grabreden ist es laut Decker zu früh. Zwar nähmen die populistischen Kräfte im EU-Parlament zu – doch sie stehen zugleich vor einem Dilemma: Die extreme Rechte ist sehr gut darin, sich selbst zu bekämpfen.

Nach den Wahlen im Juni werden wohl drei der grössten EU-Parlamentsdelegationen von Rechtspopulisten gestellt – wahrscheinlich Giorgia Melonis (47) Fratelli d’Italia, Marine Le Pens (55) Rassemblement National und Alice Weidels AfD. Doch unter diesen Parteien brodelt es – jeder Koch arbeitet nach einem anderen Rezept.

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Am Donnerstag nahm Le Pen die AfD ins Visier, nachdem parteinahe und parteiinterne Radikale in Deutschland einen «Masterplan» für die Deportation von Millionen Deutschen mit Migrationshintergrund diskutiert hatten. Le Pen, die sich seit Jahren bemüht, gemässigter aufzutreten, sagte, sie sei gegen die «Remigration» und stellte infrage, ob ihre Partei in der ID-Fraktion noch neben der AfD sitzen könne.

Und vor zwei Jahren scheiterte ein Versuch, Abgeordnete der rechten ungarischen Fidesz von Viktor Orban (60) in die rechten EU-Fraktionen EKR oder ID aufzunehmen. Die Ungarn befinden sich nach ihrer Abspaltung von der Europäischen Volkspartei immer noch im politischen Abseits.

Wie geht es weiter mit der EU?

Die Prognosen vieler Polit-Experten laufen darauf hinaus, dass Pattsituationen im EU-Parlament zur neuen Normalität werden. Nicht nur, weil rechte Kräfte die Gesamtentscheidungen der EU blockieren, sondern auch, weil sie sich gegenseitig sabotieren.

Laut Frank Decker muss die Europäische Union einen Weg finden, um die drohende politische Kluft zu überbrücken, wenn sie ihre Ideale bewahren will. Spannungen und Differenzen innerhalb der rechtspopulistischen Fraktionen könnten paradoxerweise eine Gelegenheit für die EU bieten, sich zu festigen und zu erneuern – was definitiv nötig wäre.

Decker hat klare Vorstellungen, was in der EU anders werden sollte: «Europa muss sich besser selbst behaupten in der Welt. Das hat auch mit der Verteidigungspolitik zu tun – welche die EU mit allen Mitgliedsstaaten angehen muss.» Die zweite Herausforderung: «Europa muss wieder eine Gleichzeitigkeit von Erweiterung und Vertiefung der Integration hinbekommen.»

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