Finnland und Schweden dürfen Nato beitreten – die wichtigsten Antworten
Putins strategisches Eigentor

Finnland und Schweden dürfen der Nato beitreten, beinahe zeitgleich verkündet das Verteidigungsbündnis, Russland sei offiziell der «Feind». Was bedeutet das für die Nato?
Publiziert: 29.06.2022 um 18:18 Uhr
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Aktualisiert: 30.06.2022 um 10:22 Uhr
Chiara Schlenz

Über drei Stunden sassen der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (68), der finnische Präsident Sauli Niinistö (73) und die schwedische Ministerpräsidentin Magdalena Andersson (55) am Dienstag beim Nato-Gipfel in Madrid zusammen. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg (63) diente als Vermittler zwischen den Parteien.

Das Thema der Sitzung: der von der Türkei blockierte Nato-Beitritt der Skandinavier Finnland und Schweden. Das Ergebnis der Sitzung: Der gordische Knoten wurde durchschlagen, Erdogan hat das Veto aufgehoben, die beiden Nordländer dürfen der Nato beitreten. Ein entsprechendes Dokument wurde unterzeichnet, schon am Mittwoch soll es mit ersten Beitrittsgesprächen losgehen.

Am Mittwoch erfolgte der nächste Knall: Die Nato erklärt Russland in einer Analyse offiziell zum Feind. «Wir können einen Angriff auf die Souveränität und die territoriale Integrität der Alliierten nicht mehr ausschliessen», so die düstere Analyse in dem Papier. Deswegen müsse die Nato ihre Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit «gegen die russische Gewalt» signifikant steigern.

Es ist besiegelt: Finnland und Schweden dürfen nach der Blockade durch die Türkei der Nato beitreten.
Foto: AFP
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Was bedeutet all das für das Verteidigungsbündnis, die beiden Neulinge und den Krieg in der Ukraine? Blick klärt die wichtigsten Fragen zur Nato-Norderweiterung.

Die Nato bezeichnet Russland offiziell als «Feind». Was bedeutet das?

US-Präsident Joe Biden (79) sagte bei einem Treffen mit Stoltenberg in Madrid: «Putin wollte die Finnlandisierung Europas. Er wird die Natoisierung Europas bekommen», sagte Biden. Der britische Premierminister Boris Johnson (58) fügte an: «Falls Wladimir Putin gehofft hat, als Resultat seiner unprovozierten, illegalen Invasion in die Ukraine weniger Nato an seiner westlichen Front zu bekommen, lag er komplett falsch. Er bekommt mehr Nato.»

Dominik Knill (63), Präsident der Schweizerischen Offiziersgesellschaft, führt gegenüber Blick die militärischen Vorteile aus: «Der Begriff Feind ist ein starkes Signal an Russland. Dass sich Präsident Putin von der westlichen Rhetorik stark beeindrucken lässt, kann fast ausgeschlossen werden. Für Russland waren die Nato und die USA schon länger Feinde, gegen die sich Russland verteidigen muss.»

Die neue Rhetorik zeige vor allem, dass sich die Fronten nun auch verbal zunehmend verhärten, so Knill. «Viele Kriege wurden durch eine vorgängige Dämonisierung des Gegners ausgelöst. Insofern kann hier, von beiden Seiten, von einem Eskalationspotenzial gesprochen werden. Auch wenn die Nato diesen Krieg unbedingt vermeiden will, bekommt sie ihn letztendlich doch noch. Die Zündschnur wird kürzer.»

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Wie gross sind die Streitkräfte Finnlands und Schwedens? Wie stark ist die Nato nun?

Die finnischen Streitkräfte haben nach eigenen Angaben zu Friedenszeiten eine Stärke von 23'000 Mann, im Kriegsfall können bis zu 520'000 Soldaten in kurzer Zeit unter Waffen gestellt werden. Das heisst: Bei einer Bevölkerung von rund 5,4 Millionen Einwohnern stünden im Kriegsfall beinahe zehn Prozent der Bevölkerung unter Waffen.

ETH-Sicherheitsexperte Niklas Masuhr (28) erklärt gegenüber Blick den Grund dafür: «Finnland hat sein Militär nie verkleinert, auch wenn das beim Rest der Nato nach 9/11 ein starker Trend war. Die Wehrpflicht wurde beibehalten.»

Auch in Schweden gilt seit 2020 wieder eine Wehrpflicht, das Land hat eine weitaus grössere Armeestärke, als Finnland sie zu bieten hat. Insgesamt verfügt das skandinavische Land rund 60'000 aktive Soldatinnen und Soldaten. Laut dem Portal Global Fire Power werden die schwedischen Streitkräfte bezüglich der militärischen Stärke weltweit auf dem 25. Rang geführt.

Die Truppenstärke der Nato im Vergleich mit Russland, inklusive Finnland und Schweden.
Foto: Blick Infografik

Wo haben die beiden skandinavischen Nationen ihre militärischen Stärken?

Knill erklärt: «Die beiden Länder verstärken die Kampfkraft der Nato massgeblich im Norden Europas. Beide Länder haben schlagkräftige und gut ausgerüstete Armeen, die laufend modernisiert werden.»

Auch strategisch seien beide Länder sehr wichtig für die Nato. «Mit Gotland besitzt Schweden eine strategisch sehr wichtige Insel nahe der russischen Einfluss- und Interessenssphäre. Zusammen mit Norwegen haben die beiden Länder viel Erfahrung im arktischen Verteidigungskampf. Diese Fähig- und Fertigkeiten bringen der Nato einen hohen Mehrwert.»

Was ändert sich für Schweden und Finnland?

Für die Skandinavier hat der Nato-Beitritt vor allem einen Vorteil: «Sie sind jetzt vom Nato-Artikel 5 geschützt. Bedeutet, dass man feste Sicherheitsgarantien hat, die man als ‹Partner› nicht hatte», erklärt Masuhr. «Es heisst aber auch, dass man in die militärischen Pläne der Nato, die im Fall einer Eskalation mit Russland greifen würden, integriert wird.»

Was bedeutet der Nato-Beitritt der beiden Nationen für Russland?

Russland kritisierte den Durchbruch zur angestrebten Nato-Erweiterung. Vize-Aussenminister Sergej Rjabkow sagte in Moskau: «Wir betrachten die Erweiterung des nordatlantischen Bündnisses als einen rein destabilisierenden Faktor in den internationalen Angelegenheiten.»

Besonders der finnische Nato-Beitritt sei laut Masuhr «ein strategisches Eigentor für Russland». «Die 1300 Kilometer lange Grenze bedeutet, dass sich die Kontaktzone mit der Nato dramatisch erweitert.» Problematisch sei das für Russland besonders, da sich Finnland aufgrund seines grossen Militärs gut verteidigen kann – die baltischen Staaten, die zuvor die letzten Nato-Berührungspunkte für Russland waren, sind dagegen viel verwundbarer.

«Russlands Fähigkeit, den Nachschub der Nato nach Osten zu verkomplizieren, ist durch den Beitritt schon geschwächt», fasst Masuhr zusammen.

So sieht die Nato der Zukunft aus.
Foto: Blick Infografik

Werden die finnischen und schwedischen Truppen im Ausland stationiert werden?

«Das ist durchaus möglich», so Masuhr. «Auch wenn die Allianz und das finnische Militär sich schon gut kennen, muss man natürlich die tiefere Kooperation üben – da ergibt es auch Sinn, wenn finnische Truppen in multinationale Verbände an der Ostflanke integriert werden.» Doch für das Verteidigungsbündnis werde es mehr Sinn ergeben, wenn sich Schweden und Finnland auf die eigene Verteidigung konzentrieren würden.

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Was kriegt die Türkei als «Entschädigung»?

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Milizoberst Knill vermutet dahinter einen strategischen Entscheid. «‹Staaten kennen keine Freunde, nur Interessen› soll Charles de Gaulle gesagt haben. Verhandlungen bedingen ein Geben und Nehmen», so Knill. «Insofern kann davon ausgegangen werden, dass die Beitrittskandidaten Konzessionen gemacht haben.»

Schweden und Finnland müssen der Türkei ihre volle Unterstützung gegen die Bedrohung der nationalen Sicherheit zusichern. Dazu gehört auch die Auslieferung von 33 «Terroristen» an die Türkei. Die von der Türkei als terroristische Organisationen anerkannten Gruppierungen müssen aufs Schärfste verurteilt werden.

Ein wichtiger Punkt ist auch das Waffenembargo. Alle drei Länder bestätigen, dass zwischen ihnen keine nationalen Waffenembargos mehr bestehen. Die Beschränkung für Rüstungsexporte hatten einige europäische Länder als Reaktion auf den türkischen Einmarsch in Nordsyrien 2019 ausgerufen.

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