«Das ist als Akt des Nuklearterrorismus zu werten»
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Kosharna zum Angriff aufs AKW:«Das ist als Akt des Nuklearterrorismus zu werten»

Geflohener Mitarbeiter des AKW Saporischschja packt bei Blick-Reporter aus
«Putins Nuklear-Terror bedroht auch euch in der Schweiz»

In Saporischschja steht das grösste Atomkraftwerk Europas. Russische Soldaten beschiessen es ständig. Ein Ex-Mitarbeiter erklärt Blick, wie gefährlich die Situation wirklich ist – und was er im Fall einer nuklearen Katastrophe machen würde.
Publiziert: 05.10.2022 um 00:25 Uhr
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Aktualisiert: 05.10.2022 um 15:41 Uhr
Samuel Schumacher, Saporischschja

Putins Geschwätz über Atombomben? Das ist nur die eine Hälfte der nuklearen Gefahr im Ukraine-Krieg. Ebenso gefährlich sind die Dauerangriffe russischer Soldaten auf das Atomkraftwerk von Saporischschja im Südosten der Ukraine. «Es gibt keinen Unterschied zwischen den Angriffen auf dieses AKW und einer Attacke mit einer taktischen Nuklearwaffe», betonte Präsident Wolodimir Selenski (44) vergangene Woche.

«Falsch», sagt Maksim* (40). «Ein Unfall im AKW hier wäre viel schlimmer als eine Atombombe. Die Luft, der Regen, das Grundwasser: Alles wäre danach auf Jahre hinaus verseucht. Je nachdem, wie der Wind weht, könnte der ganze Kontinent betroffen sein. Auch die Schweiz ist bedroht!»

Maksim weiss, wovon er spricht. 13 Jahre lang hat er als Zuständiger für die nukleare Sicherheit im AKW von Saporischschja gearbeitet. Er kennt den Betrieb im grössten AKW Europas in- und auswendig: Mit sechs Reaktoren erbringt es mehr Leistung als alle vier Atomkraftwerke der Schweiz zusammen. Als die Russen anfingen, nicht nur das AKW-Gelände, sondern auch die Wohnblöcke der Mitarbeitenden zu beschiessen, ist Maksim geflohen. «Ich habe wahnsinnige Angst», sagt Maksim. «Nicht nur um mich und die Ukraine, sondern um die ganze Welt.»

Das ukrainische AKW Saporischschja ist das grösste Atomkraftwerk Europas.
Foto: AFP
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Die Hälfte der AKW-Belegschaft musste fliehen

Der grosse Mann mit den pechschwarzen Augen steht im Eingang eines Hauses am Stadtrand von Saporischschja. Seinen richtigen Namen will er nicht nennen. Er hat Angst, dass seiner Familie drüben in der besetzten Zone etwas zustossen könnte. Viele seiner Bekannten haben die Russen bereits entführt, mit Elektroschocks und Knüppeln gefoltert, manche sind nie mehr zurückgekehrt. «Es ist wie in einem Horrorfilm», sagt Maksim. Anfang Woche trafen erneut mehrere russische Raketen das AKW-Gelände. «Diese Soldaten haben keine Ahnung, wie gefährlich es ist, was sie da tun», sagt Maksim.

Die Situation vor Ort ist komplex: Russland hat das Gebiet im Süden der Region Saporischschja zwar besetzt, weigert sich aber, die Kontrolle über das dortige Atomkraftwerk zu übernehmen. Die ukrainischen Arbeiter halten den Betrieb deshalb unter schwierigsten Bedingungen aufrecht. Vor einigen Tagen wurde der Direktor des AKWs von den Russen vorübergehend entführt, um weiter Druck auf die Belegschaft auszuüben.

Rund die Hälfte von Maksims Arbeitskollegen trotzen den extremen Umständen noch immer. «Statt sechs Schichtleitern haben wir nur noch drei, statt zwölf Kontrolleuren nur noch sechs pro Schicht.» Von 150 Feuerwehrleuten seien nur noch 80 da. Manchmal würden die russischen Besatzer sie einfach nicht vom Gelände lassen. Schichtwechsel seien dann nicht möglich. Also müssten die völlig übermüdeten AKW-Mitarbeiter zurück an die Kontrollschalter kehren, anstatt sich hinzulegen.

Das AKW Saporischschja liegt im von Putins Truppen besetzten Teil des gleichnamigen Gebiets im Südosten der Ukraine.

«Gefährlich weit über die Ukraine hinaus»

Die Reaktoren von Saporischschja sind inzwischen zwar alle heruntergefahren. «Die Kühlung der Brennelemente aber muss rund um die Uhr gewährleistet sein, um eine Kernschmelze zu verhindern», erklärt Olga Kosharna (67), Mitglied der staatlichen Atomregulierungsbehörde der Ukraine. Ohne Strom von ausserhalb sei das unmöglich. Mit ihren Angriffen aber würden die Russen die Stromzufuhr massiv gefährden.

«Was Russland da macht, ist nichts anderes als Nuklearterror», sagt Kosharna beim Skype-Interview mit Blick. Die Reaktoren-Typen seien zwar andere als damals in Tschernobyl und zudem erst jüngst nochmals mit einem verstärkten Stahldach ausgerüstet worden. «Dennoch droht eine Katastrophe, die weit über die Ukraine hinaus gefährlich werden könnte.»

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Das Ganze sei nichts als ein extremer Erpressungsversuch, sagt Olga Kosharna. «Die Russen wollen, dass wir uns mit ihnen hinsetzen und verhandeln, weil es ihnen an der Front so schlecht läuft.» Doch darauf lasse man sich nicht ein. Umso wichtiger wäre die Errichtung einer Schutzzone rund um das AKW, wie sie etwa auch der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) bei seinem Besuch in Saporischschja Anfang September gefordert hatte.

Im schlimmsten Fall: Kaliumiodid-Tabletten und weg vom Wind

Zuständig dafür wäre der Uno-Sicherheitsrat, erklärt Nuklearexpertin Olga Kosharna. «Doch zuerst müsste man die Russen aus diesem Gremium werfen, um es überhaupt beschlussfähig zu machen.» Die einzige Alternative dazu sei, dass die Ukraine das Gebiet rund um das AKW zurückerobere.

Und was, wenn das alles nicht gelingt? Was, wenn der «nukleare Terror» zum Schlimmsten führt? Maksim zieht die Schultern hoch: «Nun, dann mache ich das, was sie uns im AKW beigebracht haben: Fenster schliessen, Kaliumiodid-Tabletten schlucken, schauen, in welche Richtung der Wind weht – und in die andere Richtung fliehen. Viel mehr bleibt dann nicht übrig.»

* Name geändert

«Im Kernkraftwerk herrscht Personalmangel»
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