In Deutschland und Katalonien geht es um alles
Zerreissprobe für Europa

Vorwärts in die Vergangenheit oder Aufbruch zu neuen Ufern - um nicht weniger geht es bei den Wahlen in Deutschland und in Katalonien.
Publiziert: 24.09.2017 um 10:47 Uhr
|
Aktualisiert: 12.09.2018 um 05:08 Uhr
Johannes von Dohnanyi

Schauen Sie noch einmal genau hin. Schauen Sie hin auf dieses Europa, über das in der Vergangenheit oft so ab­fällig und manchmal geradezu verächtlich geredet wurde. Denn wenn heute um 18 Uhr die deutschen Wahllokale schliessen, wird nichts mehr so sein wie bisher.

Die rechtspopulistische «Alternative für Deutschland», die die Schuldkultur seit dem Ende des Nazi­terrors lieber durch ein Loblied auf die Helden­taten deutscher Soldaten in den beiden Weltkriegen ersetzen möchte, wird wohl als drittstärkste Fraktion in den neuen Bundestag einziehen.

Alte Gespenster erwachen

Natürlich werden in den nächsten Jahren in Berlin nicht Nazis regieren. Dennoch ist das, was in diesen Stunden geschieht, keine Petitesse. Denn wenn eine positive Erinnerungskultur sogar einem Teil der Mitte der deutschen Gesellschaft attraktiv erscheint – warum sollten dann alte Gespenster nicht auch im Rest Europas wieder erwachen?

Ostseebad Binz: AfD-Demonstranten protestieren gegen Merkel-Auftritt.
Foto: AFP
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Das erste dieser Gespenster dürfte sich am 1. Oktober in Spanien melden. An diesem Tag wollen die katalanischen Nationalisten über ihre Unabhängigkeit und die Gründung eines eigenen Staates abstimmen.

Wenn nicht noch ganz viel politische Weisheit vom Himmel fällt, wird der Nordosten Spaniens zur nächsten europäischen Krisenregion. Würde Madrid im Ernstfall sogar Panzer nach Barcelona abkommandieren?

Es ist bizarr: Weder sind die deutschen AfD-Wähler mehrheitlich Neonazis, noch wünscht die Mehrzahl der Katalanen einen neuen Bürgerkrieg. Und doch ähneln sie dem Lokomotivführer, der – wider jede Vernunft – die Scheinwerfer des auf dem gleichen Gleis heranrasenden Zuges mit dem Licht am Ende des Tunnels verwechselt.Könnte es sein, dass die Wähler von den politischen Gleishütern Unmögliches verlangten? Dass sie immer wieder vergeblich einen konkreten Streckenverlauf erbaten – und dass sie jetzt, entnervt von den fehlenden unzweideutigen Antworten, einfach auf gut Glück losgefahren sind?

Es ist Zeit, alte Zöpfe abzuschneiden

Wir leben in komplexen Zeiten. Globalisierung, Digitalisierung, soziale Gerechtigkeit und Massen­migration: In diesen Fragen, auf die niemand abschliessende Antworten hat, erwarten die Menschen Aufklärung und Führung. Doch anstatt sich ­einem offenen Dialog zu stellen, verschanzt sich die verunsicherte Politik gern hinter Plattitüden und beschränkt sich auf die Verwaltung des Status quo.

Phänomene wie die AfD und der katalanische Nationalismus sind das Menetekel an der europäischen Wand. Sie zeigen, wohin politische Unfähigkeit zum Dialog, Intransparenz und mangelnde Flexibilität führen können.

Aber vielleicht – und das wird man sich ja noch wünschen dürfen! – wirkt der heutige Sonntag ja als Schocktherapie. Als Weckruf an die Politik, die letzte Chance zu ergreifen: für offene politische Debatten und zivil-rabiaten Streit. Für das Abschneiden alter Zöpfe und den Aufbruch zu neuen Wegen. Für mehr Mut zu mehr Demokratie – die immer auch Risiken bedeutet.

Spanien: Gegen die Wand

Wenn Wasser auf Magma, flüssige Erdmasse, trifft, dann knallt es. Die Wissenschaft nennt das eine physikalische Explosion.

Am 1. Oktober will der katalanische Regionalpräsident Carles Puigdemont (55), hier in der Rolle des Magmas, über die Unabhängigkeit der Region abstimmen lassen. Von Madrid aus giesst Spaniens Premier Mariano Rajoy (62) reichlich Wasser auf den Vulkan. Mitte der Woche setzte er die ­Militärpolizei Guardia Civil in Marsch, liess Wahlzettel beschlagnahmen und katalanische Politiker verhaften.

Damit trieb er auch die katalanischen Spanienfreunde in die Arme der Separatisten. Inzwischen eskaliert der Konflikt im Stundentakt.

Das Klagelied der Katalanen handelt von 303 Jahren gefühlter Unterdrückung und Ausbeutung: die Kapitulation Barcelonas am 11. September 1714, dem Ende des Spanischen Erbfolgekriegs. Die nie gesühnten Verbrechen während des Bürgerkriegs. Es geht um Sprache, kulturelle Iden­tität – und um Geld.

Die «autonome Gemeinschaft» Katalonien erwirtschaftet ein Fünftel des nationalen Bruttoinlandprodukts. Seit Jahren fordern die Katalanen vergeblich, weniger ihres Wohlstands an die Zentralregierung abgeben zu müssen.

Dabei hatte es schon ­einmal eine Lösung ge­geben. Doch gegen das 2006 beschlossene ­Reformpaket hatte ausgerechnet der damalige konservative Opposi-tionsführer Mariano Rajoy geklagt. Das oberste Gericht kippte die Reformen. Seitdem steigt der Druck in der katalanischen Magmakammer.

Jetzt, am 1. Oktober, scheint der Traum der Unabhängigkeit in greifbarer Nähe. Die fieberhafte Entschlossenheit der Katalanen erinnert an ihren Widerstand gegen die faschistischen Franco-Truppen. Die hitzigsten der Hitzköpfe fabulieren bereits von spanischen Panzern in den Strassen Barcelonas. Der Schlachtruf des argentinischen Revolutionärs Che Guevara geht um: «Patria o muerte» – Vaterland oder Tod.

Puigdemont und Rajoy spielen mit dem Feuer. Der katalanische Urknall droht eine Kettenreaktion auszulösen: in Spanien neben den ­Katalanen noch die Gali-zier und die Basken. In Italien die Lombarden und Venezier, in Frankreich die Korsen und die Bretonen, in Belgien die Flamen – und, und, und: Überall in Europa hoffen von der Historie angeblich Benachteiligte auf den Startschuss aus Barcelona.

Schon deshalb wird es kein neues EU-Mitglied Catalunya geben. ­Brüssel hat schon vor Grenzkontrollen und dem Ausschluss der Katalanen aus der Zollunion gewarnt.Carles Puigdemont hört die Drohungen und zuckt die Achseln. Wie die meisten seiner Anhänger glaubt er an die Macht des Faktischen: Die EU, sagt er, werde sich der neuen Realität schon ­anpassen müssen.

Wenn Wasser auf Magma, flüssige Erdmasse, trifft, dann knallt es. Die Wissenschaft nennt das eine physikalische Explosion.

Am 1. Oktober will der katalanische Regionalpräsident Carles Puigdemont (55), hier in der Rolle des Magmas, über die Unabhängigkeit der Region abstimmen lassen. Von Madrid aus giesst Spaniens Premier Mariano Rajoy (62) reichlich Wasser auf den Vulkan. Mitte der Woche setzte er die ­Militärpolizei Guardia Civil in Marsch, liess Wahlzettel beschlagnahmen und katalanische Politiker verhaften.

Damit trieb er auch die katalanischen Spanienfreunde in die Arme der Separatisten. Inzwischen eskaliert der Konflikt im Stundentakt.

Das Klagelied der Katalanen handelt von 303 Jahren gefühlter Unterdrückung und Ausbeutung: die Kapitulation Barcelonas am 11. September 1714, dem Ende des Spanischen Erbfolgekriegs. Die nie gesühnten Verbrechen während des Bürgerkriegs. Es geht um Sprache, kulturelle Iden­tität – und um Geld.

Die «autonome Gemeinschaft» Katalonien erwirtschaftet ein Fünftel des nationalen Bruttoinlandprodukts. Seit Jahren fordern die Katalanen vergeblich, weniger ihres Wohlstands an die Zentralregierung abgeben zu müssen.

Dabei hatte es schon ­einmal eine Lösung ge­geben. Doch gegen das 2006 beschlossene ­Reformpaket hatte ausgerechnet der damalige konservative Opposi-tionsführer Mariano Rajoy geklagt. Das oberste Gericht kippte die Reformen. Seitdem steigt der Druck in der katalanischen Magmakammer.

Jetzt, am 1. Oktober, scheint der Traum der Unabhängigkeit in greifbarer Nähe. Die fieberhafte Entschlossenheit der Katalanen erinnert an ihren Widerstand gegen die faschistischen Franco-Truppen. Die hitzigsten der Hitzköpfe fabulieren bereits von spanischen Panzern in den Strassen Barcelonas. Der Schlachtruf des argentinischen Revolutionärs Che Guevara geht um: «Patria o muerte» – Vaterland oder Tod.

Puigdemont und Rajoy spielen mit dem Feuer. Der katalanische Urknall droht eine Kettenreaktion auszulösen: in Spanien neben den ­Katalanen noch die Gali-zier und die Basken. In Italien die Lombarden und Venezier, in Frankreich die Korsen und die Bretonen, in Belgien die Flamen – und, und, und: Überall in Europa hoffen von der Historie angeblich Benachteiligte auf den Startschuss aus Barcelona.

Schon deshalb wird es kein neues EU-Mitglied Catalunya geben. ­Brüssel hat schon vor Grenzkontrollen und dem Ausschluss der Katalanen aus der Zollunion gewarnt.Carles Puigdemont hört die Drohungen und zuckt die Achseln. Wie die meisten seiner Anhänger glaubt er an die Macht des Faktischen: Die EU, sagt er, werde sich der neuen Realität schon ­anpassen müssen.

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Deutschland: Nicht jammern, sondern handeln!

Der deutsche Weg aus den Trümmern des Nationalsozialismus ist mit sinnstiftenden Begriffen gepflastert. Die wehrhafte Demokratie ist einer davon. Der kritische Bürger ein anderer.

Instinktiv gefürchtet ist in Deutschland bis heute dagegen der im Denken und Handeln eigenständige Citoyen. In Preussen, dieser Urzelle auch des modernen Deutschlands, waren die Menschen immer nur Untertanen.
Jetzt aber droht Unordnung. Zunehmend aggressiv kritisieren kritische Bürger die Beschneidung souveräner Rechte durch die EU, die dem internationalen Wettbewerb zugeschriebene wachsende soziale Ungerechtigkeit, die Bedrohung durch die Digitalisierung und die kaum kontrollierbare Massenmigration.

Hier hat die deutsche Politik versagt. Sie hätte Ziele und Sinn ihrer ­Arbeit erklären können; Entscheidungsprozesse, aber auch die Grenzen der eigenen Macht im Dialog transparent machen können. Statt das Neue mit den Menschen zu gestalten, haben sich Angela Merkel und ihre Grosse Koalition im Wesentlichen auf die Verwaltung des Ist-Zustands beschränkt.
Diese Kommunikationslücke hat die AfD genutzt. Mit inhaltslosen Schlagworten ist sie zum Sammelbecken der Wutbürger geworden. Die präsentieren sich schon mal mit einer Merkel-Puppe am Galgen. Zwingen den Justizminister zur Flucht in die gepanzerte Limousine. Im Schutz der Masse der Harmlosen ­heben aber auch Alt- und Neonazis den Arm zum Hitlergruss. Gemeinsam brüllen sie ihre diffuse Sehnsucht nach einer angeblich besseren Vergangenheit: «Wir sind das Volk.»

Das ist natürlich Quatsch. Das Volk sind immer noch die anderen. Die überzeugten Demokraten, die für Menschenrechte und Pressefreiheit eintreten. Aber weil sie zivilisierter, leiser auftreten, verdreht sich ab und an der Eindruck von Mehr- und Minderheiten.

Heute gilts. An der Urne werden die Deutschen die politische Richtung der kommenden Jahre vor­geben. Die Rechts­populisten werden ohne ­jeden Zweifel in den Bundestag einziehen. Darüber zu klagen, ist sinnlos. Den deutschen Demokraten bleibt in ­dieser Lage nur eins: Sie müssen sich verwandeln – von kritischen ­Bürgern in mutig-selbstbewusste Citoyens.

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