Ist im Donbass bereits Schluss?
Darum kann Putin nicht die ganze Ukraine erobern

Der Donbass ist praktisch vollständig von russischen Truppen besetzt. Putins erstes und wichtigstes Kriegsziel ist somit erreicht. Der Krieg wird damit aber nicht enden. Dass die Russen allerdings weiter vorrücken, ist auch unwahrscheinlich.
Publiziert: 02.06.2022 um 17:36 Uhr
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Aktualisiert: 02.06.2022 um 18:04 Uhr
Chiara Schlenz

Mit der Grossstadt Mariupol haben die Russen bereits den wichtigsten Ort der Oblast Donezk unter ihrer Kontrolle. Schritt für Schritt, Kilometer für Kilometer umzingelten die russischen Truppen die in der Oblast Luhansk liegende Stadt Sjewjerodonezk – und sind jetzt im Begriff, sie einzunehmen. Hat Präsident Wladimir Putin (69) also sein am 9. Mai verkündetes Ziel, den Donbass von der Ukraine zu «befreien», erreicht?

Ja, findet Marcel Berni (33), Strategieexperte von der Militärakademie an der ETH Zürich. «Theoretisch kann Putin jederzeit einen russischen Sieg ausrufen und Hand zu Waffenstillstandsgesprächen bieten», sagt er zu Blick.

An einen russischen Rückzieher ist aber trotzdem noch nicht zu denken, betont der Experte. Denn: Beide Seiten befänden sich in einem Dilemma. «Sowohl die Ukrainer wie auch die Russen haben noch zu wenig erreicht, um an einem dauerhaften Friedensschluss interessiert zu sein.»

Der Donbass, worauf Russland seit Beginn der Invasion sein Augenmerk legte, befindet sich praktisch komplett in russischer Hand.
Foto: IMAGO/SNA
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«Sie versuchen, sich an kleineren Frontabschnitten festzubeissen»

Jetzt sei es wichtig, dass sich die Ukrainer als standhaft erweisen. «Wenn es den Ukrainern im Donbass nicht gelingt, eine militärische Pattsituation herzustellen, könnte sich Putin dennoch ermächtigt fühlen, weitere Regionen vom Donbass aus anzugreifen». Auch wenn Russland zurzeit nicht imstande dazu wäre, die ganze Ukraine einzunehmen, werde man sich auf russischer Seite nicht mit dem Donbass zufriedengeben.

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Im Donbass konnten sich die russischen Kräfte nun umgruppieren und reorganisieren. Berni zu Blick: «Sie versuchen, sich an kleineren Frontabschnitten festzubeissen und die ukrainische Verteidigung zu durchbrechen und sie ziehen ihre Kräfte vor wichtigen Städten zusammen, um einen Schwerpunkt zu bilden». Dadurch werde die russische Vorgehensweise fokussierter und kohärenter – auch wenn sie weiterhin auf dem Einsatz geballter Feuerkraft basiert.

Als Nächstes folge dann die Belagerung der Stadt, gefolgt von Artillerie-, Luftwaffen- und Kampfhubschrauberbeschuss. So wolle man alle Verteidiger vertreiben – oder töten. «Als Letztes rücken geführte Bodenkräfte mit dem Ziel vor, die Stadt zu erobern.» Dieses Vorgehen sei zwar zeit- und ressourcenintensiv, schien sich aber in Mariupol und jetzt Sjewjerodonezk auszuzahlen. «Ich könnte mir vorstellen, dass die Russen aufgrund der Erfolge der letzten Tage also an ihrer Gefechtstaktik festhalten werden» – und weiter in das Herz der Ukraine vormarschieren.

Grosser Widerstand im Westen der Ukraine

Momentan gelingt eine Eroberung der gesamten Ukraine laut Berni aus zwei Gründen nicht. «Primär scheitert die Eroberung am russischen Kräfteansatz und am ukrainischen Verteidigungswillen.» Zwar haben die Russen im Donbass eine punktuelle Überlegenheit, das liege aber vor allem an der Nähe zur russischen Grenze und den damit kürzeren Versorgungs- und Kommunikationslinien.

Ausserhalb der Grenzen der Region Luhansk werden die russischen Aggressoren auch auf grösseren Widerstand stossen, glaubt der ETH-Experte. «Der ukrainische Widerstand in westlicheren Städten wie Slowjansk und Kramatorsk wird energischer ausfallen». Denn diese Städte, quasi die ersten westlich vom Donbass, sind taktisch noch entscheidender, da sich dort die wichtigen Anschlüsse zum ukrainischen Zug- und Strassennetz befinden.

Zudem seien diese Städte sehr gut befestigt. «Die Ukrainer würden die Städte wohl nicht in einem taktischen Rückzug, wie man ihn aktuell beobachtet, preisgeben.» Berni weiter: «Der Kampf würde folglich sehr stark im überbauten Gelände stattfinden, wo die Ukrainer Vorteile in der Verteidigung haben».

Russland möchte weiteres Flussfiasko vermeiden

Das «Institute for the Study of War» (ISW) sieht noch eine weitere Hürde, die den russischen Truppen den Weg versperrt: der Fluss Siwerskyj Donez, der sich als militärischer Albtraum entpuppte. Beide Seiten haben sich an dem natürlichen Hindernis bereits im Mai die Zähne ausgebissen, ein Vorrücken wurde beiden Partien so verweigert.

Ein Angriff von Süden soll die russischen Streitkräfte nun davor bewahren, ebendiesen Fluss erneut überqueren zu müssen, so die Experten des ISW. Dem britischen Verteidigungsministerium zufolge könnten die russischen Streitkräfte das Gebiet Luhansk sichern und sich nochmals stärker auf Donezk konzentrieren, wenn ihnen die Überquerung des Flusses gelingen würde, was eine Ausweitung des Kriegs bedeutet.

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