In Südfrankreich wird mit Kernfusion die Sonne kopiert
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Die Zukunft der Energie:In Südfrankreich wird mit Kernfusion die Sonne kopiert

Iter-Testreaktor greift nach den Sternen
In dieser Brennkammer wird es heisser als im Sonnenkern

Klimakrise, Krieg, explodierende Bevölkerungzahlen – noch nie war die Frage nach einer sicheren Energieversorgung so dringlich wie heute. Das internationale Forschungsprojekt Iter will mit Kernfusion eine Antwort geben. Blick besuchte die Testanlage in Südfrankreich.
Publiziert: 11.04.2022 um 09:40 Uhr
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Aktualisiert: 12.04.2022 um 09:54 Uhr
Myrte Müller

Der Ausflug in die Zukunft beginnt im Lagerraum. Wer die Baustelle des weltweit grössten internationalen Forschungsprojekts im südfranzösischen Saint-Paul-lès-Durance besuchen will, braucht Werkstiefel, Handschuhe, Schutzbrille, einen weissen Coverall, den gelben Plastikhelm – und jede Menge Fantasie. Denn der International Thermonuclear Experimental Reactor, kurz Iter genannt, holt die Sterne vom Himmel oder besser ihre Brennkraft. Schon in ein paar Jahrzehnten soll die Kernfusion die heute drückenden Probleme in der Energieversorgung lösen.

Mediensprecherin Sabina Griffith (56) marschiert voran. Seit 15 Jahren macht sie den Job. Routiniert kurvt sie den geschundenen Kleinbus über das insgesamt 42 Hektar grosse Gelände am Kernforschungszentrum Cadarache. Vorbei an 39 Gebäuden, wo über 2300 Menschen beschäftigt sind. «Noch nie zuvor haben sich so viele Besucher angemeldet wie jetzt», sagt die gebürtige Düsseldorferin, «allein in dieser Woche sind es 21 Gruppen.» Immer häufiger: internationale Delegationen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Finanz.

Die grösste Fusionsmaschine der Welt

Alles ist gigantisch bei Iter: die Kühlanlage, das eigene Umspannwerk, die Lager für haushohe Reaktor-Komponenten. Unfassbar ist auch die Zukunftsvision, die sich hinter dem Tor der Montagehalle eröffnet. Hier erstrahlt im Neonlicht das Heiligtum von Iter: der entstehende Tokamak, ein Typ von Fusionsreaktor.

Beeindruckend: das Kühlsystem für den Testreaktor mit dem Fernziel der Stromerzeugung aus Fusionsenergie. Der Reaktor beruht auf dem Tokamak-Prinzip und ist seit 2007 beim südfranzösischen Kernforschungszentrum Cadarache im Bau.
Foto: zVg
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Im Zentrum der Montagehalle ist die Brennkammer im Bau. Kreisrund. 60 Meter hoch. 30 Meter im Durchmesser. Einmal fertig, wird die Betonkonstruktion 440'000 Tonnen wiegen und die grösste Fusionsmaschine der Welt beherbergen. In diesem mit gigantischen Magneten besetzten Zylinder soll ab 2025 die Kraft der Sonne nachgespielt werden. Für Sabina Griffith keine Zukunftsmusik. «Das ist die Zukunft!», sagt die studierte Wissenschaftlerin selbstbewusst.

Plasma wird heisser als die Sonne

«Im Vakuumgefäss entsteht aus Wasserstoff-Gas eine Plasma-Suppe. Diese wird auf 150 Millionen Grad Celsius erhitzt. Damit wäre das Plasma heisser als der Sonnenkern», sagt Sabina Griffith, «der mit Fusionskraft erzeugte Wasserdampf könnte Turbinen antreiben, Strom in grossen Mengen produzieren und die Megametropolen sowie Industriezentren dieser Welt versorgen.»

Die Kernfusion gäbe vier Millionen Mal mehr Energie frei als die Verbrennung von Gas, Kohle oder Erdöl. Sie wäre viermal leistungsstärker als die Kernspaltung. Es gäbe keine Gefahr der Kernschmelze. Die Radioaktivität der Abfallprodukte sei in zwölf Jahren abbaubar, so Griffith weiter. Super-GAU und atomare Endlagerung sind mit Fusionsreaktoren endgültig Geschichte.

Zudem entstünden keine Brennelemente wie Plutonium, die für den Bau von Atomwaffen missbraucht werden könnten. Nötige Fusionsbrennstoffe wie Deuterium und Tritium können leicht hergestellt werden. Lithium ist mit 89 Millionen Tonnen weltweit zu Genüge vorhanden. Und: Fusionsreaktoren blasen kein Kohlendioxid in die Atmosphäre.

Bislang ist Iter nicht Teil der Sanktionen

Sonnige Aussichten für die getriebene Weltpolitik. Es gilt, Klimaziele zu erreichen, eine wachsende Bevölkerung zu versorgen. Der Ukraine-Krieg zeigt ausserdem, wie tückisch wirtschaftliche Abhängigkeiten von Gas-, Öl- und Kohleimporten sein können. Fusionskraftwerke versprechen Autonomie und saubere Luft. «Iter ist ein Friedensprojekt», betont Sabina Griffith.

Das Projekt entstand 2007. Es basiert auf der engen Zusammenarbeit seiner 35 Mitgliedstaaten. Die EU sowie Grossbritannien und die Schweiz sind fast zur Hälfte an Iter beteiligt. Die USA, China, Japan, Korea, Indien und Russland tragen den Rest. Jedes Land fertigt Teile für den Tokamak aus jenen Industriebereichen, in denen sie besonders gut sind. Aus Japan beispielsweise kommen Supraleiter, aus Indien und Korea hochwertiger Stahl. Russland liefert mitunter Magnetspulen. Noch.

«Bislang ist Iter nicht Teil der Sanktionen», sagt Sabina Griffith, «und auch Russland hat versprochen, pünktlich zu liefern.» Kommt das Teil nicht, dann würde dies den Bau wie im Dominoeffekt blockieren, sagt Griffith. Aus der Ruhe bringt es sie nicht: «Höhen und Tiefen hat es bei unserem Projekt immer gegeben. Die Kernfusion aber wird nicht aufzuhalten sein.»


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