Klimaforscher Mojib Latif zum Extremwetter in diesem Sommer
«Die Menschheit verlässt gerade den Wohlfühlbereich»

War das einfach schlechtes Wetter oder ist das die Klimaerwärmung? Die Antwort ist für Mojib Latif, einer der profiliertesten Forscher zum weltweiten Klimawandel, klar: Das Problem ist menschgemacht – «eine neue Welt entsteht».
Publiziert: 24.07.2021 um 17:18 Uhr
Interview: Aline Wüst

Am Dienstag vor zwei Wochen wachte ich nachts auf. Der Hagelsturm war nach zehn Minuten vorbei. Das Gefühl blieb, dass ich so was noch nie erlebt hatte.
Mojib Latif: Ich höre öfters, dass Menschen sagen, sie hätten so was noch nie erlebt. Und wir sehen bei einigen Messstationen, dass sich extreme Niederschläge tatsächlich verstärkt haben.

Was sorgt für dieses extreme Wetter?
Ich bin davon überzeugt, dass Ihre subjektive Wahrnehmung etwas mit der Erderwärmung zu tun hat. Das ist physikalisch plausibel und wurde schon vor vielen Jahren anhand theoretischer Überlegungen und mit Modellen vorhergesagt. Aber die Datenbasis ist schlecht.

Warum?
Weil wir zwar Niederschläge messen, aber nicht, wie lange und mit welcher Intensität es geregnet hat. Vor allem nicht flächendeckend. Diese Daten gibt es erst seit etwa 20 Jahren. Bei der Temperatur haben wir längere Datenreihen.

In den vergangenen zwei Wochen schwollen wegen der Unmengen an Regen in kurzer Zeit die Flüsse und Seen in der Schweiz an. Bedrohten das Zuhause vieler Menschen. In Nordamerika herrschte derweilen Gluthitze. Und dann die Bilder aus Deutschland. Über 170 Menschen, die ihr Leben verloren in einer Flut. – Nochmals: Ist die Klimaerwärmung schuld oder das Wetter?
Wir reden hier mehr übers Klima.

Woran machen Sie das fest?
Wenn wir uns die letzten Jahrzehnte vor Augen führen, sehen wir Extreme und Rekorde. Und nun in Deutschland diese Flut mit so vielen Todesopfern und in Nordamerika Hunderte Hitzetote, weil Temperaturen bis an die 50 Grad herrschten. Wir hatten jahrtausendelang ein sehr stabiles Klima. Natürlich gab es regionale Schwankungen, wie die kleine Eiszeit. Global betrachtet gab es aber kaum eine Änderung. Das ist der Grund, weshalb sich die menschliche Zivilisation so gut entwickeln konnte. Ich bin überzeugt: Die Menschheit verlässt gerade den Wohlfühlbereich.

Zugleich ist es so, dass es schon Stürme gab wie den vor zwei Wochen in Zürich, und die Flut in Deutschland wird als schlimmste seit 60 Jahren bezeichnet.
Das ist kein Argument. Das kann man leicht entkräften.

Bitte?
Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Spielwürfel und zinken den auf die Sechs.

Ich würfle nun also viel häufiger Sechsen.
Da könnten Sie nun sagen: Der Würfel hat zuvor auch schon Sechsen gewürfelt, es kann nicht sein, dass da etwas nicht stimmt. Diese Argumentation macht keinen Sinn.

Sie sagen, dass wir den Wohlfühlbereich verlassen. Was meinen Sie damit?
Ich frage mich, wie viele Jahrhundertfluten wir in den letzten 30 Jahren hatten. Ich bin nun schon ein wenig älter, und ich kann gar nicht zählen, in wie vielen Sondersendungen ich war, weil es eine Jahrhundertflut gab. Der inflationäre Gebrauch dieses Wortes zeigt: Eine neue Welt entsteht.

Überrascht Sie das?
In keiner Weise. 2018 war das Jahr, als wir in Deutschland aufwachten: diese Extremtemperaturen im Sommer über eine so lange Zeit, die wir noch nie hatten. Da hat sich was getan in der Wahrnehmung der Bevölkerung. Ich glaube, dass wir gerade die planetaren Grenzen erreichen. Jetzt nach dieser Flut stellen sich Politiker hin und sichern den Betroffenen schnelle Hilfe zu. Aber wir werden auch finanziell an Grenzen stossen. Wir können nicht jedes Jahr Milliarden Euro für die Beseitigung von Klimaschäden in der Landwirtschaft oder für Betroffene von Naturkatastrophen ausgeben. Deswegen müssen wir uns überlegen: Wie werden wir in dieser neuen Welt leben, wie wollen wir damit umgehen?

Ist es denn zu spät?
Was heisst zu spät? Wir können sowieso nur noch Schadensbegrenzung betreiben. Da der CO2-Ausstoss nicht von heute auf morgen eingestellt werden kann, geht die Erwärmung weiter. Das Einzige, was wir tun können, ist, diese Erwärmung auf das Mass zu begrenzen, das im Klimaabkommen von Paris niedergeschrieben ist. Dort heisst es: deutlich unter 2 Grad. Schon das ist eine riesige Herausforderung. Heute stehen wir schon bei etwas mehr als 1 Grad. Aber es ist möglich. Dafür muss die Welt allerdings bis 2050 klimaneutral sein.

Beginnen wir mal von vorne. Treibhausgase sind grundsätzlich gut.
Genau, es gibt einen natürlichen Treibhauseffekt. Der hat eine Grössenordnung von über 30 Grad. Das heisst: Hätten wir den Wasserdampf, CO2 und Methan nicht in der Luft, wäre unsere Erde eine Eiswüste. Also nichts gegen den Treibhauseffekt! Der garantiert uns die lebensfreundlichen Bedingungen auf der Erde. Aber es ist wie mit einer heilsamen Medizin: Wenn Sie eine Überdosis nehmen, kann das verhängnisvolle Nebenwirkungen haben. Zu viele Treibhausgase führen zwangsläufig zu einer globalen Erwärmung. Das haben Wissenschaftler schon vor mehr als 100 Jahren niedergeschrieben.

Die Wissenschaft spricht vom Kaskadeneffekt. Was ist das?
Wenn eine gewisse Erwärmung überschritten wird, treten Prozesse ein, die nicht mehr zu stoppen sind. Selbst dann, wenn wir kein CO2 mehr ausstossen. Das geschieht bei sogenannten Kipppunkten. Ein Kipppunkt könnte weitere Kipppunkte auslösen, was die Erwärmung oder den Meeresspiegelanstieg noch beschleunigte. Ähnlich wie bei einem Dominospiel: Sie tippen einen Stein an, er kippt – bis am Ende alle Steine liegen.

Sie beschreiben in Ihrem neusten Buch «Heisszeit», dass der Klimawandel zu komplex und bedrohlich ist und sich unser Hirn deshalb davor schützt, indem es diese Tatsachen ignoriert. Was tun?
Wir müssen den Menschen zeigen, dass sie etwas gewinnen können. Wir können nicht einfach sagen: Ich mach jetzt Benzin teuer, und dann müssen die Leute mehr bezahlen. Das findet niemand gut. In dem Moment, wo man das macht, muss es Alternativen geben. Beispielsweise ein preiswerter öffentlicher Nahverkehr. Man muss Angebote machen, die Menschen gerne annehmen. Und dann ist es doch so, dass wir alle wissen, dass die Zukunft den erneuerbaren Energien gehört. Wer da nun Technologien entwickelt, sichert sich auch ökonomisch die Zukunft.

Kann technischer Fortschritt unser CO2-Problem lösen?
Schon bei der Atomkraft hoffte man darauf. Wir dachten: Da wird uns schon was einfallen mit dem Atomabfall. Uns ist nichts eingefallen. Den Fehler dürfen wir bei der CO2- Problematik nicht machen. Wer ein Problem erkennt, muss es an der Wurzel packen. Wenn wir also glauben, dass wir ein Problem mit CO2 haben, sollten wir es nicht aufschieben. Das wäre zwar die einfachste, aber auch die gefährlichste Lösung.

Die Schweizer Bevölkerung hat im Juni an der Urne gegen ein CO2-Gesetz gestimmt.
Das ist schade. Wurde es deutlich abgelehnt?

Nein, knapp. 51 Prozent waren dagegen.
Meine Erfahrung ist, dass bei solchen Abstimmungen oft vieles vermengt wird, das gar nichts mit der eigentlichen Frage zu tun hat. Viele Menschen stimmen dann einfach aus Prinzip dagegen, weil sie der Politik misstrauen. Ein Beispiel aus Deutschland: Es gab eine Kohlekommission, die den Kohleausstieg 2038 beschloss. Einer der Vorsitzenden der Kommission war der Ex-Ministerpräsident von Sachsen, Herr Tillich. Er wechselte später in den Aufsichtsrat eines Braunkohlekonzerns. Das ist legal. Solche Sachen können aber zu einem Glaubwürdigkeitsverlust führen. Deshalb trauen viele Menschen der Politik nicht mehr.

Was ist Ihre Sorge, wenn Sie in die Zukunft schauen?
Es gibt so viele Kipppunkte. Wir wissen nicht, bei welchen Temperaturen, die eintreten. Es gibt Grenzen der Vorhersagbarkeit. Das Erdsystem ist so komplex. Ich finde, das gehört zur Ehrlichkeit dazu. Denn wir als Wissenschaftler wissen auch ganz genau, was wir nicht wissen. Insofern ist es wie russisches Roulette: Es geht darum, jedes Zehntelgrad zu vermeiden. Denn dieses eine Zehntelgrad könnte das Fass zum Überlaufen bringen.

Machen wir weiter wie bisher, sind wir im Jahr 2100 bei plus 3 Grad.
Aus Sicht eines Klimaforschers wäre das eine Katastrophe.

Wo stehen wir heute?
Mich haben die letzten Wochen persönlich darin bestärkt, dass wir an der Schwelle zu einer neuen Welt sind. Diese Flut in einem Land wie Deutschland mit so vielen Opfern, das hat man nie geglaubt. Das Überraschtsein der Politiker nach dieser Flut zeigt, dass wir den Klimawandel immer noch nicht ernst nehmen.

Die Subsahara ist besonders stark vom Klimawandel betroffen. Die sich häufenden extremen Dürren bedrohen das Leben vieler Menschen. Madagaskar, das zurzeit wegen einer Dürre unter einer Hungerkrise leidet, hat einen CO2- Ausstoss von 0,16 Tonnen pro Kopf und Jahr.
In den USA sind es 16 Tonnen pro Kopf, in Deutschland 8 Tonnen, in der Schweiz 4,3 Tonnen. Es gibt beim CO2 eine Entkoppelung von Ursache und Wirkung. Zeitlich, aber auch räumlich. Der Schaden kommt verzögert, und nicht wer viel ausstösst, trägt die grössten Folgen.

Was tun?
Wir brauchen systemische Veränderungen. Es reicht nicht, ein bisschen weniger Auto zu fahren oder ein bisschen weniger zu fliegen. Wir müssen von Grund auf neu denken und versuchen, so wenige Abgase wie möglich zu erzeugen und langfristig in eine Kreislaufwirtschaft zu kommen. Aktuell nutzen wir die Atmosphäre als Deponie.

Sie werden angefeindet, weil Sie vor den Folgen des Klimawandels warnen.
Deshalb bin ich auch nicht in den sozialen Netzwerken unterwegs. Aber per Mail kriege ich täglich solche Nachrichten. Während der Flut waren es ein paar weniger. Aber es wird bestimmt wieder zunehmen. Ich lasse mich davon nicht beirren, dafür ist das Thema zu existenziell.

Kenner des Klimawandels

Er gilt als eine der profiliertesten Stimmen zum weltweiten Klimawandel: Mojib Latif.
Der 66-jährige Deutsche forscht und lehrt seit 30 Jahren zur globalen Erwärmung. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht und zahlreiche wissenschaftliche Auszeichnungen erhalten. Mojib ist Professor am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel und seit 2017 Präsident des Club of Rome Deutschland. Mojib ist verheiratet und lebt in Schönberg (Holstein).

Er gilt als eine der profiliertesten Stimmen zum weltweiten Klimawandel: Mojib Latif.
Der 66-jährige Deutsche forscht und lehrt seit 30 Jahren zur globalen Erwärmung. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht und zahlreiche wissenschaftliche Auszeichnungen erhalten. Mojib ist Professor am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel und seit 2017 Präsident des Club of Rome Deutschland. Mojib ist verheiratet und lebt in Schönberg (Holstein).

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Der deutsche Klimaforscher Mojib Latif sagt, dass wir als Menschheit gerade den Wohlfühlbereich verlassen.
Foto: David Maupile/laif
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