Kriminalpsychologe Reinhard Haller
«Manche Männer suchen eine todsichere Lösung»

Er gehört zu den renommiertesten Gerichtsgutachtern Europas: der österreichische Kriminalpsychologe Reinhard Haller (68). Jetzt ist er in den Fall Kitzbühel involviert. Ein Gespräch über die Gefährlichkeit von Männern, belastende Fälle und die Angst des Gutachters.
Publiziert: 13.10.2019 um 15:05 Uhr
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Aktualisiert: 29.12.2020 um 10:04 Uhr
Alexandra Fitz

Wir treffen den Kriminalpsychologen Reinhard Haller (68) in seiner Privatpraxis in Feldkirch (Vorarlberg). Er hat gerade ein neues Buch mit dem Titel «Das Böse» geschrieben. Im Gespräch erklärt der Psychiater unter anderem, warum junge Männer so gefährlich sein können. Dann, einige Tage nach unserem Gespräch, passiert die schreckliche Tat in Kitzbühel (Tirol). Ein 25-Jähriger erschiesst seine Ex-Freundin, deren Familie und ihren Freund. Angeblich aus Eifersucht. Auf unsere Nachfragen zu Kitzbühel darf Haller nicht antworten. Er ist in den Fall als Gutachter involviert.


In der Schweiz gibt es fast alle zwei Wochen einen Frauenmord. Meistens ist der (Ex-)Partner der Täter. Wie kann man jemanden umbringen, den man liebt?
Es geht um Macht. Jede Partnerschaft ist ein Machtkampf. Früher war gesellschaftlich geregelt: der Mann bestimmt. Das ist heute Gott sei Dank nicht mehr so. Aber das führt dazu, dass es heute häufiger zu Dramen kommt.

Wieso können sich diese Täter nicht einfach trennen, wie es normale Menschen tun?
Jeder Mensch hat Angst vor Liebesverlust. Frauen sprechen darüber oder machen eine Therapie. Manche Männer verkraften den Liebesverlust nicht und suchen dann nach kurzfristigen, im wahrsten Sinne des Wortes todsicheren Lösungen.

Nach dem Amoklauf von Winnenden 2009 mit 15 Toten arbeitete Reinhard Haller als Gutachter. Über den damals 17-jährigen Täter Tim Kretschmer sagt Haller heute: «Es wurde oft das Gegenteil geschrieben, aber Kretschmer kam aus einer sehr liebevollen Familie, die Eltern waren sehr fürsorglich.»
Foto: Keystone
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Ist es nicht falsch, dass man von Familiendramen spricht? Es ist Mord!
Absolut. Da haben Sie recht. Wenn die Frau getötet wird, ist es ein Femizid. Wenn der Mann sich selber auch noch umbringt, ist es ein erweiterter Mord. Kein erweiterter Suizid, wie oftmals geschrieben wird, sondern ein böser, egoistischer Mord.

«Das Böse» heisst auch Ihr aktuelles Buch. Sie schrieben bereits 2009 darüber. Wieso?
Der Begriff «das Böse» ist sehr schwer zu beschreiben. Meine Disziplin hat sich immer geziert mit einer Definition – das sei nichts Wissenschaftliches, sondern etwas für Krimiautoren. Das ist ein grosser Fehler. Wo sonst soll man das Böse erleben, wenn nicht in der Kriminalpsychiatrie?

Haben sich die Motive der Täter im Laufe der Zeit geändert?
Ja, wir haben heute eine Tendenz zu eher motivarmen, wenn nicht sogar motivlosen Verbrechen. Kleinigkeiten können zu einer maximalen Reaktion führen. Das ist beunruhigend.

Kann man sagen, dass wir insgesamt labiler sind und nicht mehr so viel aushalten?
Diese These ist absolut richtig. Dazu kommt eine andere Entwicklung: Wir haben nicht mehr die Möglichkeit, unsere Aggressionen abzubauen oder umzuwandeln. Früher mussten wir heuen, Holz hacken und hatten kriegerische Auseinandersetzungen. In einem Büro im 22. Stock eines Hochhauses kann man nicht Holz hacken. Das führt zu einem gewissen Aggressionsstau.

Das heisst, heute explodieren viel mehr Leute ohne Vorwarnung?
So ist es. Allem liegt die menschliche Urangst zugrunde: Ich werde zu wenig geliebt. Sie ist die Ursache für ganz viele Verbrechen und Beziehungsdelikte.

Der Mann für die Bösen

Reinhard Haller (geboren 1951 in Mellau, Vorarlberg) ist ein österreichischer Psychiater und Psychotherapeut. Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Suchtforschung. Haller ist zudem als psychiatrischer Gerichtsgutachter bekannt. Er verfasste Gutachten in bekannten Kriminalfällen (Jack Unterweger, Franz Fuchs, Heinrich Gross, Amoklauf von Winnenden). Der Österreicher schrieb zahlreiche Bücher, u.a. «Die Narzissmusfalle» und «Die Macht der Kränkung». Sein aktuelles Werk «Das Böse. Die Psychologie der menschlichen Destruktivität» erscheint am 15. Oktober. Haller leitete bis vor einem Jahr eine Klinik für Suchtkranke. Nun hat er eine Privatpraxis in Feldkirch. Haller ist verheiratet und hat drei Kinder.

Reinhard Haller (geboren 1951 in Mellau, Vorarlberg) ist ein österreichischer Psychiater und Psychotherapeut. Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Suchtforschung. Haller ist zudem als psychiatrischer Gerichtsgutachter bekannt. Er verfasste Gutachten in bekannten Kriminalfällen (Jack Unterweger, Franz Fuchs, Heinrich Gross, Amoklauf von Winnenden). Der Österreicher schrieb zahlreiche Bücher, u.a. «Die Narzissmusfalle» und «Die Macht der Kränkung». Sein aktuelles Werk «Das Böse. Die Psychologie der menschlichen Destruktivität» erscheint am 15. Oktober. Haller leitete bis vor einem Jahr eine Klinik für Suchtkranke. Nun hat er eine Privatpraxis in Feldkirch. Haller ist verheiratet und hat drei Kinder.

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«Das Böse braucht nicht viel, es bedarf lediglich des Menschen», zitieren Sie in Ihrem Buch. Haben wir alle etwas Böses in uns?
Das ist ein alter Streit der Wissenschaft. Die einen sagen, der Mensch kommt als universell, böses, kriminelles Wesen zur Welt, und es ist Aufgabe der Erziehung, daraus einen verträglichen Menschen zu machen. Die anderen sagen, es ist umgekehrt, der Mensch kommt als unschuldiges Kind auf die Welt, erst die Einflüsse, die Erziehung machen aus ihm einen bösen Menschen. Ich bin Anhänger der ersten Theorie; ich glaube, jeder Mensch hat in sich böse Anteile. Deswegen ist Fussball so eine gute Sache.

Was hat das mit Fussball zu tun?
Ich bin ein Freund des Fussballs, weil bei diesem Sport alle unsere aggressiven Bedürfnisse befriedigt werden. Er begeistert Massen, weil alle bösen Emotionen drinstecken, die man aus dem Krieg kennt. Geld und Macht, kriegerische Taktik, Schlachtgesänge, Gladiatoren und Helden, die gefeiert werden. Psychohygienisch ist das eine megagute Sache.

Sie schreiben Bücher über Abgründe. Wie passt da Ihr Buch «Das Wunder der Wertschätzung», das ebenfalls 2019 erschien, dazu?
Ich habe so viel über das Böse geschrieben, dass ich mir dachte, ich sollte vielleicht auch einmal über Lösungen schreiben. Ich dachte nicht, dass so ein Kuschelthema ankommen würde, aber meine Vorträge dazu sind überfüllt. Alle haben heute das Gefühl, dass sie zu wenig wertgeschätzt werden.

Sind Sie vielleicht altersmilde geworden?
Nein, ich war ja immer Therapeut. In meinem zweiten Beruf bin ich gutachterlich tätig und habe ein paar grosse Fälle bekommen, deswegen wurde ich in der Öffentlichkeit bekannt. Ich finde es auch höchst interessant, die Beschäftigung mit dem Destruktiven, dem Aggressiven und dem Bösen. Das ist nichts anderes als Psychologie.

Sie sassen schon vor so vielen Tätern. Wie dringen Sie zu ihnen durch?
Täter haben ein sehr hohes Bedürfnis, sich mitzuteilen. In vielen Fällen ist die Tat auch für sie etwas Grausames. Sie sagen dann: Ich muss abgeschaltet haben, ich war nicht ich selbst.

Werden Sie auch bewusst getäuscht?
Die grossen Verbrecher sind einmalige Manipulatoren. Dem kann man sich nicht ganz entziehen. Als Psychiater brauche ich Empathie, sonst kann ich keine Diagnose stellen. Ich muss mich hineinfühlen können. Wenn ich als Gutachter den grossen Experten markiere, bin ich verloren.

Wie können Sie Ihre Gefühle ausblenden, wenn Sie einem Mörder gegenübersitzen?
Das kann ich nicht. Kindstötung etwa nehme ich auch mit ins Privatleben, das beschäftigt einen oft Tag und Nacht. Ständig fragt man sich: Was ist die richtige Lösung? Wenn in Österreich ein Mord geschieht und man den Täter noch nicht kennt, habe ich grosse Angst, dass es einer ist, den ich vor ein paar Wochen als harmlos eingeschätzt habe.

Welches war Ihr schlimmster oder belastendster Fall?
Der Amoklauf von Winnenden mit 16 Toten. Schulamokläufer kommen nicht selten aus sozial guten Verhältnissen. Es wurde oft das Gegenteil geschrieben, aber Kretschmer kam aus einer sehr liebevollen Familie, die Eltern waren sehr fürsorglich. Es ist schlimm, wenn sich plötzlich das Leben so radikal, völlig unbegreiflich ändert. Nicht nur für die Opfer, auch für die Angehörigen des Täters.

Und welcher Fall war für Sie am interessantesten?
Psychiatrisch war es Franz Fuchs (Anm. d. Red.: der österreichische Terrorist und Bombenattentäter hat zwischen 1993 und 1997 vier Tote und 15 Schwerverletzte auf dem Gewissen). Er war ein gekränktes Genie.

Ihm wurde auch ein IQ von 139 attestiert. Wie drangen Sie zu ihm durch?
Durch Glück und Zufall. Ein Psychiater kann nicht in andere Menschen hineinblicken, obwohl man das immer meint. Er hat Erfahrung. So wie ein Mechaniker beim Auto hört, was nicht stimmt.

Und wie haben Sie es geschafft?
Er wollte sich von mir auch nicht untersuchen lassen. Ich sagte ihm, ich sei die ganze Nacht durchgefahren. Er fragte mich, von wo ich käme, und stellte mir dann die Frage: Wann war die Schlacht meines Heimatorts Frastanz gegen die Schweizer? Zufällig hing gegenüber meines Hauses ein Plakat der 500-Jahr-Gedenkfeier, da stand: 20. April 1497, Schlacht bei Frastanz. Ich antwortete wie aus der Pistole geschossen. Er liess sich dann auf ein Gespräch ein.

Gibt es jemanden, den Sie gerne begutachtet hätten?
Adolf Hitler. Das klingt etwas grössenwahnsinnig.

Einen, der lebt?
Ich würde gerne Donald Trump analysieren. Es ist interessant und erschreckend, dass plötzlich sehr viele narzisstische Menschen gewählt werden. Ich würde gerne einmal Menschen beurteilen, die offiziell keine Verbrecher sind, aber folgenschwere Entscheidungen für die Menschheit treffen.

Sie müssen entscheiden, ob von einer Person eine Gefahr ausgeht.
Zukunftsprognosen sind das Schwierigste. Aber sie werden von uns Psychiatern verlangt. Wenn man ehrlich ist, kann man das gar nicht – kein Mensch kann in die Zukunft blicken. Man kann dem Gericht nur Wahrscheinlichkeiten geben.

Der Druck muss ein Horror sein.
Ich bin ein absoluter Fan von der Idee, dass nicht nur ein Mensch die Prognose stellt, sondern eine Kommission. In der Schweiz ist das übrigens in manchen Kantonen der Fall. Ich kenne die Allergie gegen «Kommissionitis». Aber Leute aus dem Strafvollzug, der Bewährungshilfe, der Kriminologie und der Psychiatrie würden zu einem viel sichereren Ergebnis kommen, und der Druck auf einen einzelnen Gutachter wäre nicht so hoch. Psychiater sind auch Menschen mit Ängsten, und im Zweifel wählen sie den sicheren Weg. Heute haben wir Situationen, dass in unseren Ländern – auch in der Schweiz – 50 Prozent von allen, die sicherungsverwahrt sind, gar nicht gefährlich sind.

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