«Wie viel kann ein Mensch ertragen?»
3:18
Beirut nach der Explosion:Eine Stadt in Schutt und Asche

Aktivistin Perla Joe Maalouli über ihr Leben im zerstörten Beirut
«Wie viel kann ein Mensch ertragen?»

SonntagsBlick traf Perla Joe Maalouli, eine Schlüsselfigur der libanesischen Revolution, zum Gespräch in Beirut. «Die Explosion fühlt sich an wie ein Anschlag auf die Bevölkerung», sagt die Aktivistin und Künstlerin.
Publiziert: 16.08.2020 um 00:02 Uhr
|
Aktualisiert: 17.08.2020 um 16:52 Uhr
Sven Zaugg aus Beirut

Sie ist das Gesicht der Revolution. Das Postergirl, das sie nie sein wollte. Seit Jahren kämpft die Aktivistin, Musikerin und Künstlerin Perla Joe Maalouli gegen die korrupten Eliten des Libanons. Die Christin hat es geschafft, Volksgruppen und Konfessionen zu vereinen. Dann kam die Explosion und mit ihr eskalierte der Zorn auf der Strasse. SonntagsBlick traf Maalouli in Beirut zum Gespräch.

BLICK: Wie geht es Ihnen?
Perla Joe Maalouli:
Erst müssen wir, die Beiruter, unsere Gefühle ordnen. Nicht nur unser Zuhause wurde zerstört, sondern auch unser Sinn, wohin wir gehören. Eltern haben ihre Kinder verloren, ganze Familien wurden ausgelöscht. In den Strassen, in denen sich vor ein paar Tagen noch Menschen trafen, um zu tratschen, zu trinken, zu lachen, herrscht jetzt Totenstille. Wir erleben ein gesellschaftliches Trauma. Mein Herz und das vieler Libanesen weint. Und niemand wird kommen, um unsere Tränen zu trocknen.

Ein Trauma, wofür nach Ansicht der Libanesen die Regierung die Verantwortung trägt.
Wir haben das Gefühl, aus unserem Zuhause vertrieben worden zu sein. Es ist, als hätte die Regierung unser Viertel bombardiert und auf die eigene Bevölkerung geschossen. Die Menschen, die uns beschützen sollten, haben uns wissentlich einer grossen Gefahr ausgesetzt, die Tod und Zerstörung über uns brachte. Die Libanesen sind unheimlich wütend. Deshalb protestieren wir, deshalb gehen jeden Abend Tausende Menschen auf die Strasse.

«Die Explosion im Hafen war ein physischer Angriff auf uns, auf unser Zuhause», sagt die Aktivistin und Künstlerin Perla Joe Maalouli im Gespräch mit SonntagsBlick.
Foto: Rita Kabalan
1/7
Persönlich

Perla Joe Maalouli ist eine Schlüsselfigur der libanesischen Revolution. Sie ist in Beirut geboren und aufgewachsen. Maalouli studierte Innenarchitektur und bildende Kunst. Als politische Aktivistin, Musikerin und Künstlerin kämpft sie für einen Systemwechsel im Libanon.

Perla Joe Maalouli ist eine Schlüsselfigur der libanesischen Revolution. Sie ist in Beirut geboren und aufgewachsen. Maalouli studierte Innenarchitektur und bildende Kunst. Als politische Aktivistin, Musikerin und Künstlerin kämpft sie für einen Systemwechsel im Libanon.

Mehr

Sie kämpfen seit Jahren für einen Systemwechsel und wurden damit zum Gesicht der Revolution. Was hat sich verändert?

Die Revolution befindet sich in einer anderen Phase. Damals haben wir friedlich gegen die Elite demonstriert. Haben alle Konfessionsgruppen zusammengebracht. Ich bin selbst Christin, doch das war den Sunniten und Schiiten egal. Im konservativen Tripoli wurden wir von Zehntausenden Sunniten mit offene Armen empfangen. Das Leid hat uns zusammengschweisst. Die Explosion hat die Revolution weiter befeuert, der Systemwechsel wird noch vehementer gefordert.

Was hat die Explosion bei den Menschen ausgelöst?
Die libanesische Gesellschaft hat so viel durchgemacht. Haushalte haben kaum fliessendes Wasser, der Strom fällt regelmässig aus, die Infrastruktur bröckelt, die Regierung vertreibt uns von öffentlichen Plätzen, die Eliten bereichern sich auf unsere Kosten. Wir haben uns arrangiert. Doch die Explosion im Hafen war ein physischer Angriff auf uns, auf unser Zuhause. Alte Menschen irrten barfuss auf Glassplittern durch die dunklen Gassen von Aschrafiyya und bettelten um Hilfe. Wie kann die Regierung Menschen so behandeln? Wie zur Hölle kann man Tonnen von Ammoniumnitrat im Herzen Beiruts lagern? Wie viel, frage ich Sie, wie viel kann ein Mensch ertragen?

Ich weiss es nicht.
Wir bauen an einer friedlichen Zivilgesellschaft, und die Regierung zerstört sie! Ist es unser Schicksal, immer und immer wieder alles aufzubauen und dieses kriminelle Kartell macht immer und immer wieder alles kaputt? Müssen wir für ein anständiges Leben mit dem Tod bezahlen?

Die Bewohner Beiruts sind am Ende ihrer Kräfte. Sie erzählen mir, sie wollten nur noch weg. Es gebe für sie keine Zukunft hier im Libanon.
Das stimmt mich traurig. Viele Menschen haben den Libanon bereits verlassen. Schriftsteller, Künstler, Intellektuelle, junge Menschen, die anderswo ein Leben in Sicherheit führen können. Freunde von mir sind weggezogen. Es fühlt sich derzeit an, als würde ich am Begräbnis meiner eigenen Stadt teilnehmen.

Werden Sie bleiben?
Wenn ich das Recht auf freie Meinungsäusserung verliere, werde auch ich das Land verlassen. In meinen Songs und Gedichten werde ich weiter für das Land kämpfen. Ich will der libanesischen Bevölkerung Kraft geben, diese harte Zeit durchzustehen, bis ich nicht mehr kann. Wir dürfen jetzt nicht depressiv werden. Ich habe noch Hoffnung, dass das libanesische Volk zurückkommt, stärker, bunter, gesünder denn je.

Was braucht das Land jetzt?
Faire und transparente Neuwahlen – und zwar so schnell wie möglich. Keine Manipulationen mehr. Die letzten Wahlen waren ein Witz: Stimmzettel wurden gefälscht oder verschwanden. Wenn uns die herrschende Klasse nicht in Würde und Selbst­bestimmung leben lässt, werden wir unsere eigene Gesellschaft aufbauen. Die Zeit des Wartens ist vorbei!

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?