Luzerner Historiker Manuel Menrath zu den Massengräbern indigener Kinder in Kanada
«Auch Schweizer waren am Grauen beteiligt»

Seit Wochen finden Indigene in Kanada Massengräber mit Kinderleichen – vor ein paar Tagen erneut. Daran trage die Schweiz eine Mitschuld, sagt der Luzerner Historiker Manuel Menrath.
Publiziert: 03.07.2021 um 10:33 Uhr
Schülerinnen mit einer Nonne in der katholischen St. Anne’s Indian Residential School in Fort Albany im Norden Ontarios.
Foto: Privatarchiv Manuel Menrath
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Die Meldung sorgte weltweit für Entsetzen: Ende Mai fand man in Kamloops in British Columbia ein Massengrab mit Überresten von 215 indigenen Kindern. Vergangene Woche entdeckten Indigene 751 unmarkierte Gräber bei einem Internat in der Provinz Saskatchewan. Und jetzt der nächste Fund: die Gebeine von weiteren 182 Menschen nahe Crankbrook in British Columbia. Die genaue Ursache für den Tod all dieser Menschen ist unklar.

Sicher ist: Es sind Leichen aus Kanadas Geschichte, die sichtbare Folge eines dunklen Kapitels – die Auslöschung der indigenen Bevölkerung, der «First Nations». 150’000 Kinder versorgte der Staat in sogenannten Residential Schools. Es waren Internate zur Umerziehung, Orte des Grauens, meist von Geistlichen der katholischen Kirche betrieben. Erst 1996 endete die Praxis. Der Skandal reicht weit über Kanada hinaus. Manuel Menrath, Luzerner Historiker, sagt: «Auch Schweizer waren am Grauen beteiligt.»

Unter den Erziehern waren auch Schweizer

Menrath hat ein Jahr lang mit kanadischen Indigenen gelebt, geforscht und seine Ergebnisse zum Buch «Unter dem Nordlicht» verarbeitet. Er sagt: «Immer wieder erzählten mir Indigene, dass sie an den Residential Schools mit Schweizer Erziehern zu tun hatten.» In welchem Umfang, will er nun untersuchen. Er fordert aber jetzt schon: «Die Schweiz muss ihre Mitschuld anerkennen. Der kulturelle Genozid an den Indigenen ist Teil der Schweizer Geschichte.»

Klar ist: Auch Schweizer Siedler eroberten die neue Welt mit. Nahezu eine halbe Million zog zwischen 1700 und 1914 nach Nordamerika. 1871 zählte Kanada 3000 Schweizer, 1981 waren es 76’310, wie der Migrationshistoriker Leo Schelbert feststellte. Zu Beginn kamen sie als Söldner ins Land, dann als Büffelfell- und Pelzhändler sowie Bauern – und als Missionare. Letztere verliessen die Schweiz wegen des Kulturkampfs, bei dem der Schweizer Staat Klöster schloss. Jene in Engelberg OW und Einsiedeln SZ gründeten Tochterklöster in den USA und diese später Ableger in Kanada.

In Kanada verlief die Zerstörung der indigenen Kulturen subtiler als in den USA. Man rottete ihre Lebensgrundlage aus: die Büffel. Ein Grossteil der Indigenen starb deshalb an Hunger – und eingeschleppten Krankheiten wie Pocken, Tuberkulose und Grippe. «Diese Menschen starben leise», sagt Historiker Menrath. Die Überlebenden erzog der kanadische Staat zu Europäern. Ein kultureller Genozid in jenen Residential Schools, in deren Umfeld nun Gräber entdeckt werden.

Bis heute ein Trauma

70’000 dieser Überlebenden zählt Kanada heute. Ihnen schnitten die Geistlichen die langen Haare ab, zwängten sie in westliche Kleider, tauften sie auf christliche Namen. Und missbrauchten sie. Davon handelt der Dokumentarfilm «Misshandelt und umerzogen: Kanadas First Nations» des preisgekrönten Franzosen Gwenlaouen Le Gouil. Ein Überlebender aus Ontario erzählt: «Ich konnte nie schlafen. Ich hörte den Pater herumschleichen. Ich wartete jede Nacht darauf, dass er kommt und mich mitnimmt.» Sein Cousin und ehemaliger Mitschüler sagt, der Pater habe sich in eine Hütte zurückgezogen. «Er geisselte sich dort immer mit der Peitsche, nachdem er ein Kind missbraucht hatte. Alle konnten sehen: Aha, er hat es wieder getan. Er lief oft zu der Hütte.» Andere wurden geschlagen, mussten ihr Erbrochenes essen. Starben.

Das Grauen wirkt bis heute nach, als generationenübergreifendes Trauma. Unter Indigenen sind Alkohol- und Drogensucht weit verbreitet. Und als Historiker Menrath 2018 das Dorf Attawapiskat im Norden Ontarios besuchte, erfuhr er vom Chief: «Zwei Jahre zuvor hatten sich 100 Kinder dieser Gemeinschaft das Leben nehmen wollen.» Die Suizidrate unter Indigenen sei 50-mal höher als bei weissen Kanadiern.

«Papst sollte sich entschuldigen»

Davor verschliesst die Schweiz aber die Augen. Bei uns preist man Kanada als gelobtes Land, das wie die Schweiz ist: schön, sauber. Über 40’274 Auslandschweizer zählt der riesige Staat. Menrath ärgert es, wenn ein Schweizer Auswanderer sich bei ihm darüber beklagt, dass Indigene zu ihm kommen und ihr Land zurückfordern. Wenn SRF eine Jubiläumssendung von «Auf und davon» mit Mona Vetsch und Kanada-Auswanderer Hermann Schönbächler macht und dieser in der Sendung sagt: «Kanada – kene do.» Kanada sei da, wo keiner ist. «Die Indigenen waren lange vor ihm dort. Aber das spricht in der Sendung niemand an», sagt Menrath.

Vielleicht ändert sich die Wahrnehmung nun. Die Gräber schweigen nicht mehr, das Unrecht wird sichtbarer. «Die Gräberfunde sind nur der Anfang», sagt Menrath. Mittlerweile schätzt man die Zahl der toten Kinder auf 10’000, zuvor auf 6000. Nach den Funden geht nun Kirche um Kirche in Flammen auf, eine Statue von Königin Victoria wurde gestürzt. Und an Wänden finden sich rote Handabdrücke, symbolisch für das viele Blut an den Händen, mit dem Satz darunter: «We were children» – «wir waren Kinder». 2008 entschuldigte sich die kanadische Regierung für die Verbrechen an den Indigenen, es floss auch Geld. Menrath sagt: «Jetzt sollte sich auch der Papst entschuldigen, das wäre für den Heilungsprozess enorm wichtig.»

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