Ukrainer müssen mit Campingkocher und Kerzenlicht kochen
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Längere Stromabschaltungen:Ukrainer müssen mit Campingkocher und Kerzenlicht kochen

Militärexperte Ralph Thiele zu den Herausforderungen in den kalten Monaten
Wer ist für den Ukraine-Winter besser gerüstet?

Weil es für die Russen im Winter eng werden könnte, werden sie vorher ihre Kampfhandlungen verstärken. Davon ist ETH-Militärexperte Mauro Mantovani überzeugt. Den Russen fehlt es vor allem an wintertauglicher Kleidung.
Publiziert: 14.11.2022 um 17:00 Uhr
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Aktualisiert: 14.11.2022 um 17:48 Uhr
Guido Felder und Tanja von Arx

Der nahende Winter dürfte vor allem den russischen Truppen in der Ukraine zu schaffen machen. Ihnen fehlt es an warmer Kleidung. «Im Hinblick auf den Wintereinbruch müssen die Kriegsparteien ihre Truppen mit wintertauglicher Kleidung ausstatten, insbesondere wenn sie einen Bewegungskrieg zu führen gedenken», sagt ETH-Militärstratege Mauro Mantovani (59) zu Blick. Laut zahlreicher Berichte habe aber gerade die russische Armee grosse Probleme damit.

In der Ukraine kann es im Winter bitterkalt werden. Besonders exponiert ist Charkiw, wo laut Meteo News die durchschnittliche Tagesmaximumtemperatur zwischen Dezember und Februar bei –3 und die Tagesminimumtemperatur bei –9 Grad liegt. Gemäss experimentellen Modellen des Europäischen Zentrums für Mittelfristprognosen kann man eher von einem milderen Winter als üblich ausgehen. Meteo News hält fest, dass die Unsicherheiten allerdings ziemlich gross seien.

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So viel Zeit hat Kiew noch

Die Front zieht sich über Hunderte Kilometer durch die Gebiete, die die Russen annektiert haben, vom Süden bis in den Nordosten: die Oblaste Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk. In Luhansk wurden schon Temperaturen von –41,9 Grad gemessen. In den wärmeren, südlichen Oblasten Saporischschja und Cherson kann es zu einem Phänomen kommen, das die Russen «Rasputiza» nennen – zu Deutsch «die Schlammzeit». Die möglichen Folgen sind unpassierbare Wege und schlechte Sichtverhältnisse. Der US-Geheimdienst gibt darum die Einschätzung ab, dass Kiew maximal noch vier Wochen Zeit hat, um vor allem im Nordosten weiteres Gelände zu gewinnen.

Ukrainische Reservisten bereiten sich in Kiew auf den Einsatz vor.
Foto: Anadolu Agency via Getty Images
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Militärexperte Ralph Thiele (68) geht davon aus, dass die Offensive verstärkt wird. «Es kann heftig werden», sagt er zu Blick. Die USA würden der Ukraine denn unter die Arme greifen. «So wurde das US-Logistikkommando in Stuttgart um 300 Personen verstärkt.» Auch Mauro Mantovani erwartet, dass die Kampfhandlungen in den nächsten Wochen vor dem Kälteeinbruch intensiviert werden. Er sagt sogar: «Im Bewusstsein um die erschwerten Bedingungen werden wohl beide Seiten danach trachten, noch vor Wintereinbruch möglichst viele Geländegewinne zu erzielen.»

Experten sind gemeinhin der Ansicht, dass die Russen ihre Verteidigungsposition stärken wollen. Allerdings kursiert auch die Meinung, dass sie womöglich gewisse Regionen wie etwa Bachmut erobern wollen, bei denen es westlich keine Infrastruktur gibt. Ralph Thiele sagt, der Rückzug aus Cherson sei eine sinnvolle Konsolidierung gewesen. «Die abgezogenen Soldaten können nun die nordöstliche Front verstärken.» Auch die rund 120’000 Soldaten, die sich momentan in Ausbildung befänden, würden aller Wahrscheinlichkeit nach an die Front in den Einsatz gebracht.

Schafft es westliche Hilfe bis an die Front?

Um im Nordosten wie auch anderswo auf dem Schlachtfeld erfolgreich zu sein, muss allerdings die Logistik funktionieren. Wie Mantovani attestiert auch Thiele der russischen Seite, dass die Logistik unter anderem wegen Korruption versagt habe. Allerdings: «Die Frage ist auch, ob es die Hilfe vom Westen an die Front schafft.» Die ukrainische Armee kann denn von einem Hilfspaket aus Kanada profitieren. Es umfasst Anoraks, Wärmehosen, -Stiefel und -Handschuhe für eine halbe Million Personen. Auch Deutschland hat die Ukraine mit 116'000 Kälteschutzjacken, 80'000 Kälteschutzhosen und 240'000 Mützen ausgerüstet. Estland und Litauen senden ebenfalls Material, das die Soldaten durch den Winter bringen soll.

Thiele sagt auch: «Im Hinblick auf die kritische Infrastruktur haben wir gesehen, dass die ukrainische Verteidigung nicht gut genug ist.» Denn auch Streitkräfte bräuchten Strom und Wasser. «Das sollte dem Westen allgemein zu denken geben.»

Im Winter verändern sich auch die Artilleriegefechte. Thiele: «Schwächelt die westliche Artillerie, sind die Russen im Vorteil.» Momentan beobachte man ein Hase- und Igelrennen wegen der Raketenwerfer, die die Ukraine von den USA erhalten habe. «Es besteht weiterhin die Gefahr einer Eskalation, sprich eines Nuklearkrieges.»

Schützengrabenfuss und verstümmelte Deserteure

Viele Experten warnen mit Blick auf den Winter auch wegen der Gesundheit und der Moral der Soldaten. So werden Hautkrankheiten oder der «Schützengrabenfuss» erwartet, Verletzungen an den Füssen: Durch Wunden wegen feuchter Schuhe können Pilze und Erreger in die Haut eindringen. Auch der britische Geheimdienst warnt am Montag vor sogenannten Kälteverletzungen.

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Laut Experte Thiele sind dies Gefahren auf beiden Seiten, die in den kalten Monaten noch zunehmen. Dass deswegen die Zahl der Deserteure steigt, dem steht Thiele skeptisch gegenüber. «Deserteure werden schnell erschossen, die Truppen verstümmeln ihre eigenen Leute.» Die Furcht dominiere oft vor dem eigentlichen Willen, sich in Sicherheit bringen zu wollen.

Mehr Reparaturen im Winter nötig

Schliesslich verschleissen Waffensysteme im Winter schneller, es kommt häufiger zu Fehlfunktionen und der Reparaturbedarf wird grösser. Thiele beurteilt die Situation auf Seiten der Ukrainer als kritischer. Wegen moderner Anforderungen an das westliche Gerät wie TÜV, Umweltschutz und anderes seien westliche Systeme wohl anfälliger auf Kälteschäden. «Nur ein Beispiel: Der Schützenpanzer Puma ist auch für Schwangere tauglich.»

Laut Militärexperte Mantovani dürften die tiefen Temperaturen generell raumgreifende Bodenoperationen beider Seiten erschweren und die Frontlinien erstarren lassen. Dies dürfte auch das Ergebnis von weniger Tageslicht sein, jedenfalls wenn es nach dem ukrainischen Verteidigungsministerium geht: Im Winter ist es nur noch während zirka neun Stunden pro Tag hell und nicht mehr bis zu 16 wie im Sommer. Mantovani: «Der gefrorene Boden wäre eigentlich ein Vorteil für jene Seite, die über mehr schwere Waffen verfügt.» Also für die Russen. «Da ihre Mobilität aber aus anderen Gründen wie fehlender Ersatzteile und Technikern sowie Exposition gegenüber Raketenbeschuss eingeschränkt ist, wird die Kälte in der Gesamtbilanz eher zum Vorteil der ukrainischen Seite.»

Besonders treffen dürfte der Winter die Zivilbevölkerung der Ukraine. «Gehen die russischen Angriffe auf die Energieversorgung weiter, so könnte es zu neuen Fluchtbewegungen kommen», sagt Mantovani.

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