Nach Nawalnys Tod ist Wladimir Kara-Mursa der neue Staatsfeind Nummer 1
Für eine Lappalie landete er in Putins Horror-Knast

Nur weil er die Hände einige Sekunden vom Rücken nahm, wird der schwer kranke Kreml-Kritiker Wladimir Kara-Mursa (42) im Arbeitslager weitere sechs Monate in einer Strafzelle eingebuchtet. Seine Frau Ewgenia (43) rechnet mit dem Schlimmsten, gibt aber nicht auf.
Publiziert: 22.06.2024 um 15:57 Uhr
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Aktualisiert: 22.06.2024 um 16:39 Uhr
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Guido FelderAusland-Redaktor

Offiziell war es ein «plötzliches Todessyndrom», das am 16. Februar zum Herzstillstand des russischen Kreml-Kritikers Alexei Nawalny (†47) geführt hatte. In Wahrheit starb Nawalny aber nicht einen «plötzlichen», sondern einen langen Tod, der durch einen Giftanschlag 2020 eingeleitet und durch monatelange Misshandlungen in einem sibirischen Straflager vorangetrieben worden war. Vor knapp vier Monaten fand der bis dahin bekannteste Kreml-Kritiker in Moskau seine letzte Ruhe.

Jetzt scheint sich der Kreml unter seinen Gegnern das nächste Opfer ausgesucht zu haben: den russisch-britischen Politiker und Journalisten Wladimir Kara-Mursa (42). Seine Angehörigen rechnen mit seinem baldigen Tod.

Der Grund ist eine neue, drakonische Strafe: Kara-Mursa ist im sibirischen Arbeitslager IK-6 nahe der Millionenstadt Omsk für weitere sechs Monate in Einzelhaft genommen worden. Die Einrichtung ist bekannt als Putins Horror-Knast. Kara-Mursas Vergehen? Eine Lappalie! Er soll seine Hände einige Sekunden nicht auf dem Rücken gehalten haben, als er sich der Stelle näherte, an der er seine Mütze ablegen musste. Das teilt sein ehemaliger Anwalt Wadim Prochorow auf Facebook mit.

25 Jahre Haft: Wladimir Kara-Mursa sitzt in Sibirien hinter Gittern.
Foto: Kornilova Daria/FB
Besuch im Spital von seiner Frau Ewgenia und seinem Anwalt Wadim Prochorow (2.v.r.): Kreml-Kritiker Wladimir Kara-Mursa wurde 2015 und 2017 bei Giftanschlägen schwer verletzt.
Foto: Zvg
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Kein Gefühl in Füssen und Hand

Kara-Mursa, der 2015 und 2017 schwer verletzt zwei Giftanschläge überlebt hatte, verbüsst in Sibirien eine 25-jährige Gefängnisstrafe mit «strengen Haftbedingungen». Es ist die bisher längste Freiheitsstrafe für einen Regimekritiker in Russland. Ihm werden Hochverrat, Verunglimpfung des russischen Militärs und illegale Arbeit für eine unerwünschte Organisation vorgeworfen. Kara-Mursa hatte beispielsweise den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine scharf kritisiert.

Wie bei Alexei Nawalny verschlechtert sich der Gesundheitszustand bei Wladimir Kara-Mursa zunehmend. Er leidet an Polyneuropathie, was zu Taubheit in den Gliedmassen führt. Seine Frau Ewgenia Kara-Mursa (43) sagt gegenüber Blick: «Die Giftanschläge haben ihre Spuren hinterlassen. Er hat das Gefühl in den Füssen und in der linken Hand verloren.» Zudem hat er rund 25 Kilo abgenommen. «Aber Wladimir beklagt sich nie!», sagt sie voller Bewunderung für ihren Mann.

Kampf geht hinter Gittern weiter

Kara-Mursa war trotz der Giftanschläge aus dem Ausland immer wieder nach Russland zurückgekehrt, weil er seine Freunde nicht im Stich lassen wollte. Am 11. April 2022 wurde er dann verhaftet. Nun befindet er sich schon seit 270 Tagen in Einzelhaft, die jetzt verlängert wird. «Er hat weder einen andern Gefangenen gesehen oder mit jemandem gesprochen noch etwas von ausserhalb des Straflagers gesehen», sagt Ewgenia Kara-Mursa. Auch der Zugang zu Medikamenten sowie Bewegung fehlten ihm, ergänzt sie. «So werden sich die Symptome natürlich verschlechtern.»

Nebst Wladimir Kara-Mursa würden viele andere Kreml-Kritiker auf ähnliche Weise festgehalten und gefoltert. «Ich gehe davon aus, dass das Regime beschlossen hat, diese Menschen auf diese Weise langsam zu töten. Es ist einfach unfassbar», sagt Ewgenia Kara-Mursa, die sich mit ihrem Mann nur über ein zensiertes Mailsystem austauschen kann.

Für ihren Mann und die vielen andern politischen Gefangenen hat sie grosse Bewunderung übrig. Sie staunt, wie sie auch hinter Gittern und trotz des Drucks ihren Prinzipien treu bleiben und weiterhin ihre Meinung sagen. «Der Kampf ist nie zu Ende, solange man am Leben ist», glaubt sie.

Druck steigt seit Invasion

Seit dem Einmarsch der Russen in die Ukraine hat die Regierung unter Präsident Wladimir Putin (71) die Repressionen gegen Kritiker wie Kara-Mursa verschärft. Diese Beobachtung macht Dmitri Anisimow, Pressesprecher bei OVD-Info, einer unabhängigen russischen Menschenrechts- und Mediengruppe, die politisch motivierte Verfolgungen dokumentiert und politisch Inhaftierten durch die Vermittlung von Anwälten hilft.

Laut Anisimow wurden seit dem 24. Februar 2022 über 20’000 Personen festgenommen, weil sie den Krieg kritisiert hatten. OVD-Info sind weiter 4083 Personen bekannt, die seit 2012 aus politischen Gründen strafrechtlich verfolgt wurden. Zurzeit sind es 2542, von denen sich die Hälfte im Gefängnis befindet.

«Die Liste der Handlungen, für die eine Geld- oder Gefängnisstrafe verhängt werden kann, hat sich erheblich erweitert», sagt Anisimow gegenüber Blick. So gebe es Strafen für Turnschuhe in den Farben der ukrainischen Flagge, für blau-gelb gefärbtes Haar oder für eine Wurstpackung, auf denen das Wort «Peace» stehe.

OVD-Info verzeichnet auch eine Zunahme der Fälle, in denen politische Aktivisten aussergerichtlich unter Druck gesetzt werden. Anisimow sagt: «Sie werden entlassen, ihr Eigentum wird beschädigt, Autos werden angezündet, sie werden angegriffen oder von der Universität verwiesen.»

Angst vor baldigem Tod

Heute bemühen sich mehrere Organisationen sowie das Aussenministerium der USA, wo Kara-Mursas Frau und die drei Kinder inzwischen leben, um die Freilassung des mittlerweile bekanntesten inhaftierten Putin-Kritikers. Die Hoffnung ist allerdings klein. Die Free Russia Foundation, zu der Kara-Mursa 2019 als Vizepräsident gestossen war, schreibt auf ihrer Homepage höchst beunruhigende Worte: «Da russische Beamte Herrn Kara-Mursa beharrlich die lebenswichtige medizinische Versorgung verweigern, befürchten Experten, dass er unter diesen Umständen kein weiteres Jahr überleben wird.»

Man kann jetzt schon spekulieren, dass bei einem Ableben die Todesursache sehr schnell klar sein wird. Die russischen Staatsmedien dürften dann die Meldung verbreiten, dass Wladimir Kara-Mursa an einem «plötzlichen Todessyndrom» gestorben sei.

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