«Unser Worst-Case-Szenario war, dass viele, viele Menschen sterben könnten»
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Fukushima schockte die Welt:«Wir erwarteten, dass viele, viele Menschen sterben»

Nuklearwissenschaftler erinnert sich an die Katastrophe von Fukushima
«Unser Worst-Case-Szenario war, dass viele, viele Menschen sterben könnten»

Ein Jahrzehnt nach dem Super-GAU in Fukushima ist Japan noch nicht aus der Atomkraft ausgestiegen – wie die Schweiz. Ausgerechnet zum Jubiläum erlebt die tot geglaubte Technologie ein strahlendes Comeback.
Publiziert: 07.03.2021 um 10:15 Uhr
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Aktualisiert: 11.03.2021 um 14:52 Uhr
Fabienne Kinzelmann

Als die Katastrophe passiert, ist Tetsunari Iida (62) weit entfernt. Gut 9000 Kilometer liegen am 11. März 2011 zwischen dem japanischen Nuklearwissenschaftler und seinem Heimatland, als die Erde bebt und eine mehr als dreizehn Meter hohe Wasserwand ganze Landstriche an der Ostküste verwüstet, das Kernkraftwerk Fukushima Daiichi überrollt und die grösste Atomkatastrophe nach Tschernobyl verursacht. In Japan ist es 14.46 Uhr, in Potsdam (D), wo Iida für eine Konferenz weilt, noch früh am Morgen.

«Stündlich kamen neue Berichte über die Situation», erinnert sich Iida, der die in Fukushima eingesetzten Atommüll-Lagerbehälter mitentwickelt hat. «Als die Kühlbecken versagten, war klar, dass es ein nuklearer Notfall ist.» Die Reaktoren überhitzten, in dreien kam es zur Kernschmelze. Explosionen und Brände folgten, hochgradig kontaminiertes Wasser lief ins Meer.

Noch während dies alles passierte, versuchte Iida, der das Institut für nachhaltige Energiepolitik ISEP in Tokio leitet, zurückzureisen. «Unser Worst-Case-Szenario war, dass viele, viele Menschen sterben könnten.»

Zweite Explosion am 14. März 2011 im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi.
Foto: Keystone
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Entsorgungsarbeiten könnten noch 30 Jahre dauern

Die genaue Strahlenmenge, die freigesetzt worden ist, und die Zahl der Toten sind bis heute umstritten – viele Krebserkrankungen etwa treten erst nach Jahrzehnten auf. Immerhin: Der Wind stand günstig, statt über die 35-Millionen-Metropole Tokio blies er die radioaktive Wolke übers Meer.

Ein Jahrzehnt später gleicht das Gelände von Fukushima einem gigantischen Sarkophag. Noch bis zu 30 Jahre könnten die Entsorgungsarbeiten dauern.

Fukushima war das weltweite Startsignal für den Ausstieg aus der Atomkraft. Zahlreiche Länder wandten sich von der Kernenergie ab – darunter auch die Schweiz und Deutschland.

Doch während in Deutschland die letzten Reaktoren Ende 2022 vom Netz genommen werden sollen, hat die Schweiz noch kein Datum für die Abschaltung festgelegt. Die verbleibenden vier Reaktoren in Beznau (2), Gösgen und Leibstadt dürfen weiterlaufen, solange sie als «sicher» gelten. Nach Einschätzung der Atomaufsicht könnte das bis in die 2040er-Jahre der Fall sein.

Joe Biden und Bill Gates werben für Atomkraft

Auch Japan – ausgerechnet – hat noch kein Enddatum für die Atomenergie festgelegt. Knapp einen Monat nach der Katastrophe habe er einen Plan vorgelegt, erzählt Iida. «Wir hätten die Nuklearenergie innerhalb von zehn Jahren eliminieren und komplett durch erneuerbare Energien ersetzen können.»

Doch der politische Wille fehlte. Und ausgerechnet jetzt, ein Jahrzehnt nach der Katastrophe, erlebt die Atomkraft ein strahlendes Comeback. Selbst Umweltschützer flirten mit der einst so verhassten Technologie.

Greta Thunberg (18) etwa schrieb 2019: «Persönlich bin ich gegen Atomkraft, aber laut Weltklimarat kann sie ein kleiner Teil einer sehr grossen neuen CO2-freien Energielösung sein.» US-Präsident Joe Biden (78) will bis 2035 «sauberen Strom» – mithilfe von Kernkraftwerken. Und auch Bill Gates (65) wirbt in seinem neuen Buch für eine emissionsfreie Welt dank Atomkraft.

Tetsunari Iida, ehemals Atomkraft-Befürworter, kennt all die Ideen. Und die Gefahren. «Nach meinem Studium habe ich in der Nuklearindustrie und in der Atomaufsicht gearbeitet.» Damals sei ihm klar geworden: Die Atomenergie hat keine Zukunft. Sie verursache unmittelbar zwar weniger Emissionen – dafür aber Langzeitfolgen, die viel verheerender sein könnten.

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