Orban und Macron als Dealmaker
So lief der Von-der-Leyen-Coup

Über Nacht einigten sich Europas Staats- und Regierungschefs doch noch auf die Juncker-Nachfolge. Die Lösung ist immerhin ein halber Gewinn für Angela Merkel – und stammt ausgerechnet von zwei Widersachern.
Publiziert: 03.07.2019 um 12:45 Uhr
Überraschungskandidatin: Die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen soll als erste Frau das höchste Amt der EU übernehmen.
Foto: Getty Images
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Fabienne Kinzelmann

Das Poker um den wichtigsten EU-Posten hat ein vorläufiges Ende gefunden: Nach wochenlangem Gezerre um die Nachfolge von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (64) haben sich die europäischen Staats- und Regierungschefs geeinigt. Und eine echte Überraschungskandidatin aus dem Hut gezaubert!

Die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (60) soll neue Kommissionschefin werden. Mitte Juli muss sie zwar noch vom EU-Parlament bestätigt werden, doch bisher sieht es gut aus für Von der Leyen.

Sie ist eine Vertraute von Angela Merkel (64), galt lange als deren Kronprinzession. Doch dann stolperte sie über einen Plagiatsskandal und auch im Verteidigungsministerium unterliefen ihr einige Pannen. Wie hat sie es jetzt auch den wichtigsten EU-Posten geschafft?

Orban sperrte sich gegen EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber

Ihre Nominierung verdankt sie ausgerechnet zwei Gegenspielern auf EU-Ebene: Offenbar haben der französische Präsident Emanuel Macron (41) und Ungarns Viktor Orban (56) den Deal ausgehandelt. Die sind sich eigentlich nicht grün – Macron kann es kaum genug EU sein, Orban stemmt sich regelmässig gegen das Brüssel-Diktat.

Letzterer hatte darum auch Manfred Weber (46), Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP) und Wunschkandidat von Angela Merkel, verweigert. Der Grund: Weber hatte die Mitgliedschaft von Orbans Fidesz-Partei in der EVP im Winter «pausiert». Orban hatte die EU und Kommissionspräsident Juncker immer wieder scharf attackiert. Nach der Europawahl durfte Fidesz zwar wieder mitspielen, Weber verbannte die Ungarn aber aus der Fraktionsspitze. Das trug ihm Orban nach.

Mit seinen loyalen Partnern in Polen, Tschechien und der Slowakei blockierte Orban darum Weber als Juncker-Nachfolger. Auch Macron war alles andere als glücklich mit Weber. Er hätte selbst am liebsten einen liberalen Kandidaten oder eine liberale Kandidatin auf dem Posten installiert.

Gleichzeitig anerkannte Macron, dass die EVP als stärkste Fraktion im EU-Parlament das inoffizielle Anrecht auf die Chef-Stelle in der Kommission hat. Und: Keinesfalls wollte er den Sozialdemokraten Frans Timmermans (58) als Juncker-Nachfolger, den Merkel als Vertreter der zweitstärksten Parteienfamilie ebenfalls unterstützt hätte.

SP-Spitzenkandidat Timmermans hatte zu wenig Unterstützer

Der Niederländer Timmermans hatte ebenfalls keine Rückendeckung bei den Osteuropäern. Der Grund: Als bisheriger Vizepräsident der Kommission ist Timmermans für Grundrechte zuständig. Bekanntlich vermintes Gebiet zwischen der EU und seinen nach rechts driftenden Mitgliedsländern Polen und Ungarn.

Während sich die Staats- und Regierungschefs mit ihren unterschiedlichen Interessen also gegenseitig blockierten, drohte die Nominierung zur Blamage zu werden. Das Nominierungstreffen am Sonntag endete ohne Ergebnis, auch am Montag gab es keine Einigung.

Webers Name war Anfang der Woche komplett aus dem Spiel. Gleichzeitig hielten es viele Mitglieder der Wahlsieger-Fraktion, der EVP, für untragbar, dass möglicherweise ein Mitglied einer anderen Fraktion auf den wichtigsten EU-Posten rücken könnte.

Königsmacher Macron und Orban brachten Von der Leyen aufs Tableau

Also handelte Macron mit Orban am Montagabend den Deal aus, dass statt Manfred Weber ein anderes Mitglied der EVP die Juncker-Nachfolge übernehmen soll: Von der Leyen. Die deutsche Verteidigungsministerin ist auf europäischer Ebene ein gleichermassen unbeschriebenes Blatt wie anerkannt.

Im Gegensatz zu Weber besitzt Von der Leyen Regierungserfahrung – seit 2005 hatte sie in der deutschen Bundesregierung verschiedene Ministerposten inne. Die Allrounderin wurde ausserdem in der Nähe von Brüssel geboren, spricht fliessend Französisch.

Merkel durfte nicht abstimmen

Orban zeigte sich offen für Macrons Vorschlag – und übernahm die Aufgabe, seine Freunde in Osteuropa und Italien zu überzeugen. Merkel telefonierte laut Medienberichten die Staats- und Regierungschefs durch. Mit dem Gesamtpaket zeigten sich alle zufrieden:

  • Die konservative Französin Christine Lagarde (63) soll nämlich auf den Chefposten der Europäischen Zentralbank rücken

  • beim EU-Aussenbeauftragten einigten sich die Staats- und Regierungschefs auf den spanischen Sozialisten Josep Borrell (72)

  • neuer EU-Ratspräsident wird der belgische Premierminister Charles Michel (43), ein Liberaler

Das stimmte nicht nur Macron zufrieden, sondern auch die liberalen niederländischen und luxemburgischen Regierungschefs Mark Rutte und Xavier Bettel. Und auch Manfred Weber soll versorgt werden: In der zweiten Legislaturperiode könnte er EU-Parlamentspräsident werden, zuvor übernimmt ein Sozialdemokrat.

Vor allem für Angela Merkel ist Von der Leyens Nominierung ein Gewinn – wenn auch nur ein halber, weil sie bis kurz vor knapp am Prinzip des Spitzenkandidaten festgehalten hatte. Doch gegen Macrons und Orbans Dealmaker-Künste konnte sie sich kaum wehren. Für ihre Vertraute und erste Frau im höchsten Amt der EU durfte Merkel allerdings nicht selbst stimmen, weil ihr zuhause die SPD den Riegel vorschub. Doch das Ergebnis bleibt das gleiche: Erstmals soll eine Frau das höchste Amt der EU übernehmen – durchgebracht von Macron und Orban. (kin)

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