Panzer, Bomben, Exekutionen
«Wissen nicht, ob die Russen oder die eigenen Leute auf uns schiessen»

Zeugen berichten dem «Guardian», wie russische Soldaten Zivilisten auf offener Strasse erschiessen und es Überlebenden verunmöglichen, mit ihren Angehörigen in Kontakt zu treten.
Publiziert: 14.03.2022 um 19:10 Uhr
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Aktualisiert: 16.03.2022 um 16:37 Uhr

Es sind Bilder, die niemand sehen sollte. Körperteile, die auf der Strasse liegen. Schwangere, denen Blut aus dem Bauch spritzt. Tote Kinder. Blick verzichtet bewusst darauf, die schlimmsten Kriegsbilder zu zeigen. Doch die Schicksale müssen erzählt werden, sie machen das Unvorstellbare noch greifbarer, als es die Appelle des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski (44) oder das stockende Vorwärtskommen des russischen Blech-Konvois tun.

Der «Guardian» ist in der Ukraine unterwegs und hat mit Menschen gesprochen, die Opfer der russischen Angriffe geworden sind. Sie zeichnen das Bild eines Gegners, der offenbar wahllos Personen tötet und versucht, Berichte über solche Taten nicht zuzulassen.

«Sie erschossen ihn vor Ort»

Wie Mykola*, der beschreibt, wie russischen Soldaten am 2. März das Dorf Andriivka eingenommen haben, das wenige Kilometer von Kiew entfernt ist. «Sie haben Granaten die Strassen heruntergeworfen. Ein Mann verlor sein Bein – am nächsten Tag war er tot.» Danach sei die gegnerische Armee die Hauptstrasse entlang gelaufen und hätte begonnen, auf Fenster von Wohnhäusern zu schiessen. Eine Frau sei getroffen worden. «Mein Bruder Dymtro kam mit erhobenen Händen auf die Strasse. Sie schlugen ihn und erschossen ihn vor Ort.»

Satellitenbilder aus Borodjanka, welche die Zerstörung der Stadt erahnen lassen.
Foto: keystone-sda.ch
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Die Ehefrau von Dymtro beobachtet die Exekution von ihrem Fenster aus, berichtet der «Guardian». Sie habe zudem gesehen, wie ihre Nachbarn auf die gleiche Weise umgebracht worden seien. Die Tochter von Dymtro, Yulia, vermutet, diese Menschen seien getötet worden, weil sie zuvor in der ukrainischen Armee als Freiwillige dienten.

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«Für die nächsten sechs Tage werdet ihr zugebombt»

«Am nächsten Tag gingen sie von Haus zu Haus, konfiszierten Handys und Laptops», erzählt Mykola. Elektrizität habe es keine mehr gegeben. Die Soldaten, die zu ihnen ins Haus gekommen seien, hätten sich anständig verhalten. «Sie sagten uns, es ist gut, dass wir einen Keller haben. Wir sollen Wasser sammeln, da wir für die nächsten sechs Tage zugebombt werden.»

Die Russen hätten nicht zugelassen, dass Dymtro auf dem Friedhof begraben werde, erzählt Mykola. Also hätten sie ihn im Garten vergraben. Kurz darauf habe es einen Mörserangriff gegeben, erzählt Yulia. Nachbarhäuser hätten zu brennen begonnen. Ein russischer Soldat habe ihnen gesagt, sie sollen sich hinter seinem Panzer verstecken, wo es sicherer sei. «Wir waren völlig verängstigt. Wir wussten nicht, ob die Russen schossen oder unsere Leute. Wir rannten nach Hause und entkamen nur knapp dem Mörserangriff.»

«Getötet, nur weil sie mit ihren Verwandten telefonierten»

Am 8. März beschlossen die Familien zu fliehen. Sie hatten weiterhin weder Elektrizität noch Internet oder Telefone. Dymtros Frau fragte russischen Soldaten um Erlaubnis, gehen zu dürfen. Diese hätten daraufhin in die Luft geschossen. Gleichzeitig seien die Mörserangriffe weitergegangen, zitiert der «Guardian» die Zeugen. Also beschloss die Familie, ohne Erlaubnis zu flüchten.

«Als wir gehen wollten, schossen die Russen auf unser Auto, obwohl wir Papierfetzen mit dem Wort ‹Kinder› auf die Autofenster geklebt hatten», sagt Yulia. «Das hat sie aber offensichtlich nicht sonderlich interessiert.» Der Vater einer Familie, die mit Mykolas Gruppe flüchtete, sei erschossen worden, als er von einem russischen Soldaten beim Telefonieren in seinem Garten gesehen wurde. Yulia fragt rhetorisch: «Wie soll man verstehen, dass Menschen getötet werden können, nur weil sie ihren Verwandten mitteilen wollen, am Leben zu sein?»

«Eine Lehrerin, die gerade ihre Hühner fütterte»

Als die Russen in Druschnja einmarschierten, schossen sie ebenfalls auf die Häuser. Dies berichtet Serhiy dem «Guardian». «Ich glaube, sie haben das gemacht, um nicht mit Molotow-Cocktails angegriffen zu werden.» Er sagt, alle Häuser entlang der Hauptstrasse von Borodjanka bis Makariw – beides Siedlungen in der Region Kiew – seien getroffen worden. Menschen seien gestorben. Danach seien die Russen von Tür zu Tür gegangen. «Sie töteten eine Lehrerin, die gerade dabei war, ihre Hühner zu füttern.»

Den Menschen hätten sie erzählt, in ihren Häusern zu bleiben: «Wenn ihr uns seht, macht keine ruckartigen Bewegungen. Nehmt eure Hände über den Kopf.» Auch Serhiy berichtet, es gebe keine Elektrizität und die Russen hätten einigen die Telefone abgenommen, sodass es kaum Möglichkeiten gab, die Verwandten zu kontaktieren.

Am 10. März erklärten sich die Russen bereit, einen humanitären Korridor für die Evakuierung der Bewohner von Borodjanka und der benachbarten Dörfer zu schaffen. Laut Serhiy waren die Bombardierungen an diesem Tag noch heftiger. Serhiys Schwager fuhr mit dem Fahrrad einen Waldweg entlang, um zu prüfen, ob er frei von Russen war, was der Fall war. Die Familie fuhr dann durch den Wald hinaus.

Über Telegram wird nach den Liebsten gesucht

Über Social Media versuchen Ukrainer, Lebenszeichen von Angehörigen zu erhalten. Es gibt Telegram- und Facebook-Gruppen mit Zehntausenden Nutzern und Nachrichten. Valeriiy (34) arbeitet im Human-Resources-Bereich und lebt in Kiew.

Als aber der Krieg am 24. Februar begann, war er in seinem Landhaus im westukrainischen Dorf Lypivka. Er erzählt dem «Guardian», immer mehr solcher Nachrichten erhalten zu haben, als die Russen in ein benachbartes Dorf gelangten. «Die Nachrichten lauteten ungefähr so: ‹Bitte helft mir, Ivan Ivanovich zu finden›. Mit einem Foto und einer Adresse. Die Zahl solcher Nachrichten nahm ständig zu. Ich bekam Angst.»

Seit dem 1. März habe es kein Telefonsignal und keinen Strom mehr gegeben, aber draussen habe man teilweise ein lückenhaftes Signal empfangen können. «Entweder haben die Russen das Signal irgendwie blockiert, oder es lag an der fehlenden Elektrizität». Am 3. März gelang es Valeriiy, unter Beschuss zu entkommen. (vof)

* Der Guardian hat alle Namen der Betroffenen geändert, Blick hat die geänderten Namen übernommen.

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