Protestforscherin Margit Mayer (71) über die Floyd-Unruhen in den USA
«Die Bewegung hat das gleiche Ausmass wie 1968»

Der Protest auf der Strasse nimmt ab, die Ungleichheit bleibt. Expertin Margit Mayer über die Floyd-Demonstrationen und Protest in Pandemie-Zeiten – und warum Gouverneure und Bürgermeister die Zukunft der USA in der Hand haben.
Publiziert: 12.06.2020 um 22:47 Uhr
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Aktualisiert: 29.06.2020 um 15:01 Uhr
Interview: Fabienne Kinzelmann

Brennende Autos, Plünderungen, Gewalt. Innerhalb weniger Tage eskalierten die Proteste nach dem Tod von George Floyd (†46) infolge einer brutalen Festnahme am 25. Mai. Hunderttausende demonstrierten gegen Polizeigewalt und Ungleichheit – zuerst in Minneapolis, dann auch unter anderem in New York, Chicago und zahlreichen europäischen Städten. Zwei Wochen nach Floyds Tod scheint Ruhe auf den Strassen einzukehren. Im Telefon-Interview mit BLICK erklärt die renommierte Berliner Protestforscherin Margit Mayer (71), warum die Proteste dennoch aussergewöhnlich sind.

BLICK: Letzte Woche hatte man das Gefühl, die USA steuerten auf einen Bürgerkrieg zu. Ist das schon wieder vorbei?
Margit Mayer: Die Angst vor einem Bürgerkrieg schüren vor allem Medien wie Fox News und Breitbart. Dabei betreiben die Demonstrierenden keinen gewaltsamen Umsturz. Sie sind sehr klar in ihren Forderungen: Black Lives Matter. Sie fordern die Bestrafung brutal vorgehender Polizisten.

Wie schätzen Sie die aktuellen Proteste von der Dynamik her ein?
Wir haben es jetzt zum ersten Mal mit einer Bewegung zu tun, die das gleiche Ausmass hat wie 1968. Die Ähnlichkeiten und Parallelen mit der Bürgerrechtsbewegung springen ins Auge. Es geht ums gleiche zentrale Problem: Rassismus – die weisse Vorherrschaft in den USA und die zu ihrer Aufrechterhaltung notwendige Polizeibrutalität. Das ist das zentrale, unbewältigte Thema der USA.

«Es geht ums gleiche zentrale Problem»: Protestforscherin Mayer über die Ähnlichkeiten mit der Bürgerrechtsbewegung.
Foto: zVg
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Ist der Rassismus die «Erbsünde» der USA?
Davon kann man sprechen, insofern dass der bis heute wirkmächtige Gründungsmythos der USA auf der Ausrottung der indigenen Bevölkerung sowie der Sklaverei basiert. Präsident Johnson liess die Auswirkungen 1967 prominent untersuchen, weil ihm sehr wohl klar war, dass die sozioökonomische Ungleichheit zwischen Schwarz – heute würde man «People of Color» sagen – und Weiss den damaligen städtischen Unruhen zugrunde lag. Im Bericht der Kerner Commission warnten die Verfasser: Wenn die USA nicht hinreichend Ressourcen aufwenden, um die dramatische politische und wirtschaftliche Ungleichheit zu mindern, werde die Nation noch tiefer entlang ethnischer Linien gespalten. Doch leider haben weder Johnson noch andere liberale Politiker das Thema priorisiert – sie wollten nicht eingestehen, dass weisser Rassismus den Aufruhr verursacht hat.

Wie unterscheiden sich die Proteste von den Unruhen 1992 nach dem Freispruch für die vier Polizisten, die den Afroamerikaner Rodney King misshandelt hatten?
Die Unruhen blieben grösstenteils auf Los Angeles beschränkt. Sie währten fünf heftige Tage – nachdem die Nationalgarde abgezogen und die Ausgangssperre aufgehoben war, kehrte man zur Tagesordnung zurück. Heute lenkt die Regierung zwar viel Aufmerksamkeit auf tatsächliche oder vermutete Gewalt, aber die «LA-Riots» waren vom Ausmass an Gewalt, Zerstörung und Toten her weitaus heftiger.

«Black Lives Matter» kam mit den Protesten in Ferguson 2014 auf. Hat die Bewegung etwas verändert?
Das kommt drauf an, welche Indikatoren man für «Veränderung» ansetzt. Schaut man auf die ökonomische Situation der Schwarzen, würde ich sagen: wirkungslos. Beim Zugang zu Bildung: wirkungslos. Bei der Polizeigewalt: wirkungslos. Viele Städte und Staaten haben zwar Programme wie etwa Sensibilisierungstrainings für Polizeibeamte eingerichtet – gereicht hat das aber nicht. Deswegen jetzt die radikale Forderung wie etwa in Minneapolis, bei null anzufangen. Fortschrittliche und getestete Konzepte, um Polizeigewalt zu reduzieren, gibt es. Bislang fehlte der politische Wille – selbst in Städten mit demokratischen Bürgermeistern wie etwa New York.

Wie wirkt die Pandemie auf die Proteste?
Ohne Corona wären die Proteste vermutlich nicht so gross. Wir haben eine besondere Situation, weil so viele Menschen in den USA arbeitslos sind. Interessant ist auch die breite Unterstützung – die Präsenz von Weissen an den Demos etwa ist sehr eindrücklich, die internationalen Demos oder dass auch Unternehmen ihre Unterstützung symbolhaft oder mit Spenden ausdrücken. Das könnten Hinweise darauf sein, dass diese Bewegung mehr Standhaftigkeit entwickeln könnte. Aber: Je grösser eine Bewegung wird, desto heterogener wird sie auch. Das könnte zu Vereinnahmungsversuchen oder Spaltungen führen.

Was bräuchte «Black Lives Matter» jetzt?
Zugeständnisse der staatlichen und einzelstaatlichen Institutionen. Auf die Bundespolitik ist allerdings aktuell nicht zu setzen, aber vielleicht gibt es im November eine neue Besetzung. Noch hat aber auch die Demokratische Partei wenig anzubieten, was die konkreten Forderungen angeht. Der Kniefall im Kongress war eine reine Symbolhandlung. Ich habe noch keinen Gesetzesentwurf gesehen, der an den Kern der Forderungen geht.

Wie soll sich dann etwas ändern?
In den Einzelstaaten und Städten passiert aktuell sehr viel – auch wenn da die Landkarte je nach politischer Spitze natürlich sehr unterschiedlich aussieht. Aber die Gouverneure und Bürgermeister könnten Druck auf die Bundespolitik machen, indem sie lokal der Ungleichheit und dem weissen Rassismus entgegenwirken.

Protestforscherin Margit Mayer

Wenige Forscherinnen im deutschsprachigen Raum kennen sich mit Protestbewegungen in den USA so gut aus wie Margit Mayer (71). Die Politikwissenschaftlerin ist emeritierte Professorin am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der FU Berlin. Sie lehrte an mehreren amerikanischen Universitäten und beschäftigt sich schwerpunktmässig mit US-Politik, neuen sozialen Bewegungen und Stadtentwicklung.

Wenige Forscherinnen im deutschsprachigen Raum kennen sich mit Protestbewegungen in den USA so gut aus wie Margit Mayer (71). Die Politikwissenschaftlerin ist emeritierte Professorin am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der FU Berlin. Sie lehrte an mehreren amerikanischen Universitäten und beschäftigt sich schwerpunktmässig mit US-Politik, neuen sozialen Bewegungen und Stadtentwicklung.

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