Putin-Flüsterer Sergej Karaganow im grossen Interview
«Wir trauen dem Westen nicht»

An der ukrainischen Grenze stehen russische Panzer, der Westen schickt Waffen und Kampfjets. Droht Krieg? Einer der wichtigsten aussenpolitischen Vordenker Russlands über die Ukraine-Krise, Kompromisse und rote Linien.
Publiziert: 30.01.2022 um 13:16 Uhr
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Aktualisiert: 30.01.2022 um 13:20 Uhr
Interview: Fabienne Kinzelmann und Benno Zogg

Herr Karaganow, was ist Wladimir Putin wichtiger: der Respekt des Westens oder seine Sicherheitsforderungen?
Karaganow:
Ich kann nicht für den Präsidenten sprechen. Aber so wie ich ihn verstehe, hat auch er keinen Respekt für den Westen mehr. Es geht nur um Fragen der Sicherheit.

USA und Nato bieten Präsident Putin Verhandlungen über Manöver, Rüstungskontrolle und die Wiedereröffnung von Verbindungsbüros in Brüssel und Moskau an. Was halten Sie davon?
Ich glaube nicht, dass es eine vernünftige Option ist. Die Nato bietet lediglich an, zum Status quo ante von vor 2014 zurückzukehren. Aber diese Situation hat aus meiner Sicht zu den Krisen auf der Krim und im Donbass geführt und löst unser eigentliches Problem nicht: die mögliche Ausweitung der Nato auf die Ukraine und die Militarisierung deren instabilem Regime. Das verschafft uns höchstens eine Atempause bis zu neuen und möglicherweise noch gefährlicheren Krisen und einem möglichen grossen Krieg.

Zur Person

«Präsident Putin hört sich meine Meinung an», sagt Sergej Karaganow (69) reserviert. Entgegen anders lautender Medienberichte sei er aber kein offizieller Berater, betont der russische Intellektuelle. Er ist Ehrenvorsitzender des Rates für Aussen- und Verteidigungspolitik und war Dekan an der Moskauer Wirtschaftshochschule. In einem Aufsatz schrieb er vergangenes Jahr, die spannungsreiche Lage erinnere ihn an die 1950er-Jahre – und er glaube, dass Russland diesmal als Gewinner daraus hervorgehen kann.

imago images/SNA

«Präsident Putin hört sich meine Meinung an», sagt Sergej Karaganow (69) reserviert. Entgegen anders lautender Medienberichte sei er aber kein offizieller Berater, betont der russische Intellektuelle. Er ist Ehrenvorsitzender des Rates für Aussen- und Verteidigungspolitik und war Dekan an der Moskauer Wirtschaftshochschule. In einem Aufsatz schrieb er vergangenes Jahr, die spannungsreiche Lage erinnere ihn an die 1950er-Jahre – und er glaube, dass Russland diesmal als Gewinner daraus hervorgehen kann.

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Glauben Sie noch an eine diplomatische Lösung?
Ich hoffe, dass die amerikanischen Kollegen bald verstehen, dass ihre Politik den amerikanischen Interessen schadet. Wir werden uns nach einer offensiven Ausweitung der Schlagkraft auf einen Kompromiss einigen, um die Militarisierung der Ukraine und den Aufbau militärischer Infrastrukturen in den Ländern zu stoppen, die Russland nahestehen. Natürlich könnten wir darauf auch militärisch reagieren – aber wer will das schon.

Sergej Karaganow: «Wir bewegen uns nur auf unserem Gebiet.»
Foto: Alexander Shcherbak/TASS
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Sie sprechen von einem Kompromiss – ist Russland denn bereit dazu?
Kommt auf den Kompromiss an.

Welcher Kompromiss würde Sie denn zufriedenstellen?
Die beste Lösung wäre die komplette Neutralität für Länder wie die Ukraine oder Moldawien.

Der Westen wird diese Forderungen nicht erfüllen, er verweist auf die freie Bündniswahl von Staaten und die Souveränität der Ukraine. Und mit einer Invasion wird das Russland auch nicht erzwingen können.
Dass wir in die Ukraine einmarschieren wollen, ist Quatsch. Wir haben doch schon das grösste Land der Welt und genug fruchtbares Land. Ausserdem ist die Ukraine von ihrer Elite und ihren westlichen Unterstützern ausgehöhlt worden. Sie ist ein Bettler Europas.

Warum bedrohen Sie die Ukraine denn dann mit den Truppen an der Grenze?
Die Ukraine ist nicht bedroht. Sie ist ein Freund Russlands.

Und was bieten Sie den USA und Ihren Verbündeten als Entgegenkommen an?
Freundschaft und Sicherheit.

Womit würde sich Russland zufriedengeben? Ziehen Sie die Truppen ab, wenn die Ukraine das Minsker Abkommen umsetzt, das den von Russland kontrollierten Gebieten Autonomiestatus gewähren würde?
Die vollständige Umsetzung der Minsker Vereinbarung, die von der ukrainischen Führung der letzten zwei Jahren kontinuierlich verweigert wurde, ist eine Voraussetzung für einen Kompromiss, ja. Das muss aber felsenfest sein. Und selbst dann trauen wir dem Westen nicht. Wir brauchen also gewissermassen ein felsenfestes Abkommen, aber mit Back-up.

Das heisst: Auch dann ziehen Sie die Truppen nicht ab?
Wo sollten wir sie denn abziehen? Die sind auf unseren Territorien – im Gegensatz zu den Amerikanern und Briten in Polen und in anderen Ländern Osteuropas, die Spezialeinheiten in der Ukraine und die Amerikaner, die Europa praktisch besetzen. Wir bewegen uns nur auf unserem Gebiet.

Sie haben auch Streitkräfte nach Belarus verlegt. Und möchten Sie etwa behaupten, Sie verstehen die Nervosität angesichts mehr als 100’000 Soldaten an der ostukrainischen Grenze nicht?
Natürlich sind sie da, um unsere westlichen Partner nervös zu machen. Sie sollen verstehen, was auf dem Spiel steht. Ich hoffe zwar, dass wir eine direkte Konfrontation vermeiden können und wir sollten jede Möglichkeit zum Dialog nutzen. Gleichzeitig trauen wir dem Westen nicht und wissen, dass Vereinbarungen schon sehr oft wieder fallengelassen wurden.

Sie sprechen immer wieder davon, dass es kein Vertrauen mehr gäbe: Nicht zwischen den Akteuren, nicht in Institutionen, nicht in Abkommen. Lässt sich das Vertrauen wieder aufbauen?
Absolut. Wenn ein Ende der Nato-Expansion auf dem Tisch liegt und wir anfangen, ernsthaft miteinander zu reden. Darüber hinaus sehe ich keine echten Widersprüche zwischen Europäern und Russen.

Was hat die Beziehung zwischen Europa und Russland Ihrer Ansicht nach zerstört?
Angefangen hat es wohl in Jugoslawien, aber dann hatten wir etwa den Irak-Krieg, wo die meisten europäischen Nationen an unglaublichen Gräueltaten beteiligt waren. Oder Libyen und viele andere Konflikte.

Das mag von russischer Seite aus so sein, aus westlicher Perspektive waren es wohl eher der Krieg in Georgien und die Annexion der Krim. Gibt es etwas, das Russland aus Ihrer Sicht hätte anders machen sollen?
Ja – wir haben viel zu lange vertraut. Wir haben viel zu lange geglaubt, dass wir verlässliche Partner im Westen haben. Jetzt sehen wir, wie der Westen zerfällt. Und ich fürchte, wir haben dazu beigetragen, weil wir nur zugesehen haben.

Und jetzt möchten Sie das ändern?
Nein, nein. Wir wollen nur die westliche Expansion stoppen. Die Nato ist ein aggressives Bündnis. Sie macht auch viele Länder unsicherer, weil sie sie automatisch zu Feinden macht und anti-russische Gefühle stärkt. Die Nato ist ein Problem, eine Krankheit Europas, die geheilt werden sollte.

China hat in Tadschikistan, das früher ebenfalls zur Sowjetunion gehörte, eine Militärbasis errichtet. Warum stört Sie das weniger als Nato-Stützpunkte?
Weil China uns freundlich gesinnt ist. Das ist neben unserer eigenen militärischen und strategischen Macht unser wichtigstes strategisches Kapitel im Bereich Sicherheit und Macht, genauso wie Indien.

Ist China wichtiger für Russland als der Westen?
Das würde ich nicht sagen. Wir hätten gerne ausgezeichnete Beziehungen zum Westen. Aber der Westen ist jetzt eben so, wie er ist und er hat sich gegen die Integration Russlands entschieden. China ist unabhängig vom Westen Freund und Partner.

Einer, der sie über kurz oder lang dominieren könnte.
Ich sorge mich nicht darum, dass irgendjemand Russland dominieren könnte. Wir haben bisher noch jeden zerstört, der uns dominieren wollte – vom König von Schweden über Napoleon bis Hitler. Jetzt beenden wir halt die liberale Vormachtstellung. Niemand könnte Russland je beherrschen.

Sie streben eine neue Weltordnung an. Was stört Sie an der jetzigen?
Sie basiert auf falschen Ideen. Die meisten multilateralen Institutionen sind entweder während des Kalten Krieges entstanden oder noch in Erinnerung daran. Und der Teil der Welt, der früher auf marxistischen Idealen basierte, stützt sich jetzt auf eine liberal-demokratische Ideologie, die genauso kontraproduktiv ist. Es gibt ausgezeichnete liberal-demokratische Elemente, aber die aktuelle Weltordnung scheitert an der Ideologie. Wir müssen ein ausgewogeneres System schaffen.

Wie soll dieses «ausgewogenere System» aussehen?
Für die Welt hoffe ich und bin ich sicher, dass die Vereinten Nationen weiter bestehen und gedeihen werden. Ich fände ein multipolares System auf Basis der UN-Institutionen gut. Das System der Vereinten Nationen darf sich auf jeden Fall nicht wie aktuell nur auf westliche Regeln stützen.

Kann Russland diese neue Weltordnung schaffen, ohne die Unabhängigkeit seiner Nachbarländer zu untergraben?
Das machen wir doch gar nicht. Russland sollte sich um sich selbst, um das eigene Land kümmern. Uns interessiert nur Sicherheit. Mit unseren Nachbarländern wollen wir Stabilität und Freundschaft. Und wir wollen eine stabile Nachbarschaft, dazu gehört auch Europa.

Sie sagten in einem Interview, die Situation in Kasachstan hätte erneut bewiesen, dass viele postsowjetische Staaten ohne Russland nicht überlebensfähig sind.
Es wäre ja schön, wenn sie es ohne uns wäre. Aber als grosses Land im Zentrum des Kontinents müssen wir ihnen eben helfen. Wir müssen vermeiden, dass sie zerfallen wie etwa Somalia. Das können wir nicht tolerieren.

Bis wann könnte es mit der neuen Weltordnung klappen, die Russland anstrebt?
Vielleicht in einer Dekade oder in zwei. Das nächste Jahrzehnt wird eines der Zerstörung der alten Ordnung sein – hoffentlich eine konstruktive Zerstörung.

Und wie wollen Sie das erreichen?
Ich will nicht zu arrogant klingen. Lassen Sie es mich so sagen: Wir wissen, was wir tun. Und im Gegensatz zum Westen unterliegen wir keinen ideologischen Fesseln – und wir verstehen die Welt schlicht besser.

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