Putin-Kritiker Nawalny ist nicht das erste mögliche Giftopfer des Kremls
Bei Gefahr vergiftet

Der möglicherweise vergiftete Putin-Kritiker Alexej Nawalny wird in der Berliner Charité behandelt. Sein Team misstraut den russischen Ärzten – aus guten Gründen.
Publiziert: 23.08.2020 um 00:24 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2020 um 17:02 Uhr

Der Jobwechsel bekam Alexander Litwinenko (†44) nicht. 2003 lief der russische Nachrichtendienstler zu den Briten über, drei Jahre später war er tot. Ein Grüntee, den er bei einem Treffen mit russischen Geschäftsmännern und Ex-KGB-Mitarbeitern in einer Hotelbar trank, war mit dem radioaktiven Gift Polonium versetzt.

Vergangene Woche wurde ein Heissgetränk erneut zur möglicherweise tödlichen Falle: Seit Donnerstagmorgen kämpfte Putin-Kritiker Alexej Nawalny (44) auf einer Intensivstation in Omsk (Sibirien) um sein Leben. Getrunken hatte er laut seiner Sprecherin lediglich einen Tee. Nun liegt der führende Kopf der liberalen Opposition im Koma. Ob er überlebt, war bei Redaktionsschluss noch unklar.

Nawalny ist eine politische Gefahr für Putin

Mit einem medizinisch aufgerüsteten Privatflugzeug wurde der Kreml-Kritiker am Samstagmorgen in die auf Giftopfer spezialisierte Berliner Charité gebracht. Bereits am Freitag hatte der aus Slowenien stammende Filmproduzent Jaka Bizilj (48) auf Bitten von Nawalnys Angehörigen das Flugzeug mit Fachpersonal von Deutschland aus losgeschickt.

Alexej Nawalny ist einer der bekanntesten russischen Regierungskritiker – jetzt liegt er im Koma.
Foto: keystone-sda.ch
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Doch die russischen Ärzte verhängten ein Transportverbot – der Zustand des Beatmeten sei zu instabil. Erst am Abend gaben sie grünes Licht. Das Nawalny-Lager vermutet Zeitschinderei, um Spuren zu verwischen. Die russischen Ärzte diagnostizierten eine Stoffwechselstörung. Doch es gibt berechtigte Zweifel an der Darstellung.

«Es gab schon einige ähnliche Fälle von Vergiftungen im Umfeld der russischen Regierung», sagt Russland-Expertin Susan Stewart von der Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) zu SonntagsBlick.

Nawalny ist einer der prominentesten russischen Oppositionellen. Regelmässig wirft er der Regierung und den Oligarchen Korruption und Machtmissbrauch vor. Dazu veröffentlicht er detaillierte Recherchen in den sozialen Netzwerken, wo er ein Millionenpublikum hat. Ruft er zu Protesten auf, folgen ihm Zehntausende vor allem junge Menschen. Bereits mehrfach entging er Anschlägen.

«Nawalny wird von der Regierung definitiv als politische Gefahr wahrgenommen. Seine Korruptionsberichte haben ihm Feinde in hohen Positionen gebracht», sagt Russland-Expertin Stewart.

Auch Skripal und Wersilow wurden vergiftet

In den vergangenen Jahren wurden immer wieder Systemkritiker oder in Ungnade gefallene ehemalige Mitarbeiter der Regierung mit Vergiftungssymptomen behandelt.

Neben Ex-Agent Litwinenko etwa 2004 der damalige Oppositionskandidat und spätere Präsident der Ukraine, wiktor Juschtschenko (66), dem Dioxine in den Reis gemischt wurden – er beschuldigte Moskau, die Täter zu schützen.

Oder Wladimir Kara-Mursa, Berater des 2015 erschossenen Oppositionspolitikers Boris Nemzow (†55), der mutmasslich bereits zweimal einem Giftanschlag entging.

Dann wäre da noch Ex-Spion Sergej Skripal (69), der mit seiner Tochter Julia (36) im März 2018 auf einer Parkbank im englischen Salisbury dem in der Sowjetunion entwickelten Nervengift Nowitschok ausgesetzt wurde.

Oder Pussy-Riot-Aktivist Pjotr Wersilow (32), der im September desselben Jahres mit Vergiftungssymptomen in ein Moskauer Spital gebracht und später ebenfalls in der berühmten Berliner Charité, in der auch Corona-Experte Christian Drosten forscht, behandelt wurde.

Kremlsprecher: «Wünschen ihm baldige Genesung»

Warum erfolgte der Anschlag auf Nawalny ausgerechnet jetzt? Möglicherweise, weil der Kreml gewaltig unter Druck steht. Putin macht in der Corona-Krise eine schlechte Figur, das Land kämpft mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten, dazu kommen die Anti-Regierungs-Proteste im Fernen Osten Russlands und im strategisch wichtigen Belarus.

Wladimir Putin (67) weist die Vorwürfe zurück. Der Kreml betonte, dass es eine Untersuchung durch die Polizei geben werde, sollte sich der Verdacht auf eine Vergiftung bestätigen. «Wie jedem Bürger unseres Landes wünschen wir ihm baldige Genesung», sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow (52).

Was den Gesundheitszustand des Putin-Kritikers Nawalny angeht, heisst es wohl vorläufig abwarten – und besser keinen Tee trinken.

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