Russland und Ukraine beschuldigen sich gegenseitig
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Bau einer radioaktiven Bombe:Russland und Ukraine beschuldigen sich gegenseitig

Warnung oder Ablenkung?
Das steckt hinter der «schmutzige Bombe»-Taktik

Setzt die Ukraine bald eine Atombombe auf eigenem Gelände ein? Dieses Gerücht setzte Russland am Wochenende in die Welt und sorgte so für grosse Aufregung. Experten vermuten, dass der Kreml von den eigenen Niederlagen ablenken will.
Publiziert: 24.10.2022 um 13:09 Uhr
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Aktualisiert: 24.10.2022 um 13:48 Uhr
Sven Ziegler

Am Sonntagmittag kommt es auf der politischen Ebene des Ukraine-Kriegs zur nächsten Eskalation. Russlands Verteidigungsminister Sergei Schoigu (67) hat in einem Telefonat mit seinen französischen und britischen Amtskollegen behauptet, Kiew plane zur Diskreditierung Moskaus einen nuklearen Tabubruch.

Die Ukraine plane, eine «schmutzige Bombe» – ein konventioneller Sprengsatz, allerdings mit radioaktivem Material angereichert – auf dem eigenen Territorium zu zünden. Damit solle die Welt gegen Russland aufgewiegelt werden. Gemäss dem britischen Verteidigungsminister Ben Wallace (52) hat Schoigu erzählt, dass die Ukraine «Massnahmen plant, die von westlichen Ländern, einschliesslich Grossbritannien, unterstützt werden, um den Konflikt in der Ukraine zu eskalieren».

Falsche Drohung gegen Ukraine?

Heisst im Klartext: Schoigu beschuldigt seine westlichen Amtskollegen, eine bewusste Eskalation in Zusammenarbeit mit der Ukraine zu suchen und dafür auch eine atomar verseuchte Bombe einsetzen zu wollen.

Russlands Präsident Wladimir Putin setzt auf eine neue Droh-Taktik.
Foto: Getty Images
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Belegt hat Schoigu die Vorwürfe nicht, die ukrainische Regierung wies die Vorwürfe umgehend zurück. Präsident Wolodimir Selenski (44) sagte, die Behauptung Russlands lege den Verdacht nahe, dass Moskau selbst etwas «Schmutziges» vorhabe.

Auch Aussenminister Dmytro Kuleba (41) sagte, die Ukraine verfüge über keine schmutzigen Bomben. Und er fügte an: «Die Russen werfen oft anderen vor, was sie selbst vorhaben.»

Tatsächlich nutzt Russland diese Masche immer wieder, um von seinen eigenen Taten abzulenken. Immer wieder kommt es zu schrecklichen Handlungen seitens Putins Truppen – nicht ohne zuvor oder danach der Ukraine eine «geplante Provokation» vorzuwerfen und so jede Verantwortung von sich zu weisen.

Schon mehrere Male Inszenierungsvorwürfe

Ein Beispiel: Das Massaker von Butscha. Im März und April kommen in dem vorübergehend russisch besetzten Dorf Hunderte Zivilisten ums Leben. Nach Abzug der russischen Truppen kommen die grauenhaften Taten der russischen Besatzer nach und nach ans Licht. Trotz der eindeutigen Bilder weist Russland die Vorwürfe zurück, spricht stattdessen von einer «Inszenierung» der Ukraine. Doch die Vorwürfe Russlands sind haltlos, wie unter anderem dieser Blick-Faktencheck zeigte.

Ausserdem rechtfertigt Wladimir Putin (70) seinen Angriffskrieg in der Ukraine immer wieder mit dem «Willen des Volkes». Zudem stelle die ukrainische Führung «eine reale Gefahr für die Menschen im Donbass» dar. Schliesslich habe die Ukraine den Krieg begonnen.

Auch diese Behauptung stimmt nicht: Russland ist am 24. Februar mit einem grossen militärischen Aufgebot in die Ukraine einmarschiert. Zudem ist der Krieg im Donbass bereits seit 2014 im Gang. Damals hissten Soldaten ohne erkennbare Zugehörigkeit die russische Flagge auf ukrainischem Gebiet und sorgten so für eine Eskalation. Russland behauptet zwar, dass die Soldaten nicht zur russischen Armee gehören. Experten gehen mittlerweile aber davon aus, dass diese Behauptung falsch ist.

Zeitpunkt genau gewählt

Auch der Abschuss des Flugs MH17 über der Ostukraine im Juli 2014 stellt Russland als «grosse Theaterinszenierung» des Westens dar. Die russischen Staatsmedien hatten immer wieder verschiedene Versionen zum Hergang des Abschusses gestreut und so versucht, die Täterschaft auf die Ukraine zu lenken. Untersuchungen zeigen aber, dass das Flugzeug von einer russischen Rakete abgeschossen wurde. Alle 298 Menschen an Bord wurden getötet.

Beobachter gehen zudem davon aus, dass Russland den Zeitpunkt der Atom-Drohung sehr genau gewählt hat. Putins Truppen stehen vor allem in der Region Cherson vor einer herben Niederlage. Mit den nun gestreuten Gerüchten könnte die Kreml-Propaganda versuchen, von der desolaten Lage abzulenken.

Zudem ist es auch nicht ausgeschlossen, dass Russland eine taktische Atomwaffe einsetzen könnte, um auf die mögliche Niederlage in der ukrainischen Grossstadt zu reagieren. Einen solchen Vergeltungsschlag hat Russland bereits nach der teilweisen Zerstörung der Krim-Brücke verübt. Nach dem Anschlag auf Putins Herzensprojekt auf der besetzten Krim liess der russische Präsident tagelang Raketen auf ukrainische Grossstädte abfeuern, Dutzende Menschen starben.

Laut der «Bild»-Zeitung könnte Russland mit den neuen Gerüchten zudem versuchen, den Druck auf Kiew zu erhöhen. Durch die Telefonate mit dem Westen und der Atom-Drohung Russlands soll die Ukraine angehalten werden, die Offensive rund um Cherson abzubrechen und den Russen das Feld zu überlassen.

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