Russland-Experte Ulrich Schmid
«Die Lage im Kreml ist verzweifelt»

Ulrich Schmid, Professor für russische Kultur und Gesellschaft an der Universität St. Gallen, schätzt im Interview die Ereignisse in Russland ein.
Publiziert: 24.06.2023 um 20:52 Uhr
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Aktualisiert: 25.06.2023 um 06:32 Uhr
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Fabian EberhardStv. Chefredaktor SonntagsBlick

SonntagsBlick: Herr Schmid, erleben wir gerade den Anfang vom Ende Wladimir Putins?
Ulrich Schmid: Die Stellung Putins ist sicher gefährdet. Sein Auftritt am Samstagmorgen zeigt, dass er nicht mehr Herr der Lage ist.

Woran machen Sie das fest?
Putin hat in seiner Rede die Einheit des Staates und des Volkes beschwört. Das zeigt deutlich, dass eben diese verloren gegangen ist.

Was erleben wir hier gerade: einen Putsch? Oder ist es der Beginn eines Bürgerkriegs, der am Samstag gerade nochmal abgewendet wurde?
Beides greift zu weit. Es ist eine Meuterei, ein Aufstand. Das Ziel Prigoschins besteht darin, seine eigene militärische Linie durchzusetzen. Seine Hauptgegner sind Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow. Prigoschin hat immer wieder gefordert, dass Putin die beiden absetzt und dass seine eigenen Wagner-Truppen stärker unterstützt werden.

Russland-Kenner Ulrich Schmid redet im Interview mit SonntagsBlick über die Lage in Russland.
Foto: Philippe Rossier
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Er will Putin also gar nicht stürzen?
Zumindest zu Beginn seiner Aktion stand das für ihn wohl nicht im Vordergrund. Ihm ging es vor allem darum, seine eigene Stellung im System Putin zu stärken. Mittlerweile muss ihm aber klar geworden sein, dass es für ihn keinen Platz mehr im System gibt. Nun wird er alles auf eine Karte setzen. Sein grosses Handicap ist aber: Er hat im Kreml überhaupt keine Hausmacht.

Renommierter Russland-Kenner

Ulrich Schmid (57) leitet den Fachbereich Osteuropastudien an der Universität St. Gallen. Er studierte Slawistik, Germanistik und Politologie an den Universitäten Zürich, Heidelberg und Leningrad. Heute gehört Schmid zu den renommiertesten Russland-Kennern der Schweiz.

Ulrich Schmid (57) leitet den Fachbereich Osteuropastudien an der Universität St. Gallen. Er studierte Slawistik, Germanistik und Politologie an den Universitäten Zürich, Heidelberg und Leningrad. Heute gehört Schmid zu den renommiertesten Russland-Kennern der Schweiz.

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Und in der russischen Elite? Geniesst er da keine Sympathie?
Nein. Er ist der Anführer seiner eigenen Truppe, die ihm treu ergeben ist. Aber im politischen System hat er kaum Unterstützer.

Auch nicht bei der russischen Armee? Kann es nicht sein, dass Teile davon zu Prigoschin überlaufen?
Das ist möglich. Die Armee befindet sich in einem schlechten Zustand, viele Soldaten sind unzufrieden. Unter den Soldaten ist die Loyalität zu Putin deshalb wenig ausgeprägt. Bisher sind aber nur einige Dutzend Soldaten übergelaufen. Das ist zu wenig, um die Situation grundlegend zu ändern. Dass Prigoschin in den nächsten Monaten tatsächlich die Macht in Russland übernimmt, halte ich für nahezu ausgeschlossen.

Wladimir Putin hat angekündigt, den Aufstand «brutal» niederzuschlagen. Er hat mit Luftangriffen auf die Wagner-Truppen reagiert. Was passiert jetzt?
Putin will Prigoschin möglichst schnell aus dem Spiel nehmen.

Indem er ihn tötet?
Falls nötig ja. Er nennt Prigoschin einen Verräter. Das ist die unterste Stufe in Putins Hackordnung. Er hat schon früher zwischen Feinden und Verrätern unterschieden. Feinde sind solche, die schon immer gegen ihn waren, zum Beispiel der Oppositionelle Alexei Nawalny. Verräter sind ehemalige Mitstreiter, die ihm in den Rücken fallen.

Die Wagner-Truppen zogen am Samstag Richtung Moskau, ehe sie stoppten. Was passiert in den nächsten Tagen?
Die Nachrichtenlage ist undurchsichtig. Prigoschin nimmt aber offenbar Mussolinis Marsch auf Rom von 1922 zum Vorbild. Er inszeniert quasi das faschistische Grundmodell.

Wird es dereinst zur Schlacht um die Hauptstadt kommen?
Das halte ich für unwahrscheinlich. Doch allein die Tatsache, dass man sich in Moskau auf dieses Szenario vorbereitet, zeigt, wie verzweifelt die Lage im Kreml sein muss. Das Eingeständnis einer tiefgreifenden Schwäche. Damit ist auch Putins eigene Position grundlegend ins Wanken geraten.

Kann er sich an der Macht halten?
Prigoschins Aufstand hat Putins Position geschwächt. Putins planmässige Wiederwahl als Präsident im kommenden Jahr ist nicht mehr selbstverständlich, weil er nicht mehr fähig ist, Stabilität und Sicherheit zu garantieren. Ein mögliches Szenario besteht in einem vorzeitigen Rücktritt Putins und der verfassungsmässigen Übernahme des Präsidentenamts durch den loyalen Ministerpräsidenten Michail Mischustin. Das wäre dann eine Erhaltung des Systems Putin ohne die Person Putin.

Wie wirken sich die Ereignisse auf den Krieg in der Ukraine aus?
Der Aufstand in Russland ist eine gute Nachricht für die Ukrainer. Die Rechnung ist einfach: Die Meuterei Prigoschins bindet in Russland sowohl Kräfte der Wagner-Gruppe als auch der russischen Armee. Diese fehlen dann in der Ukraine, was die Gegenoffensive von Kiew erleichtert. Der Frontverlauf könnte schon bald in Bewegung geraten.

Und was bedeutet ein instabiles Russland für den Westen?
Der Westen wird die Lage genau beobachten, aber nicht eingreifen. Er hat bei internen Machtkämpfen in Russland derzeit keine Handlungsoptionen.

Das ist der Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin
2:10
«Putins Koch»:Das ist der Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin
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