Schnappt die tödliche Falle zu?
Deshalb will Hamas Israels Soldaten jetzt nach Gaza locken

Israels Evakuationsfrist für die Menschen im nördlichen Gaza-Streifen ist am Samstag um 15 Uhr abgelaufen. Die Bodenoffensive steht kurz bevor. Trotz Israels militärischer Überlegenheit könnte die Hamas als Sieger hervorgehen. Eine Analyse.
Publiziert: 14.10.2023 um 15:09 Uhr
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Aktualisiert: 14.10.2023 um 19:38 Uhr
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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Bis heute um 15 Uhr hatten 1,1 Millionen Menschen im Norden des Gaza-Streifens Zeit, ihre Wohnungen zu verlassen. Israel will die Gegend «mit voller Gewalt» angreifen. Das kündigten die israelischen Streitkräfte den Menschen in Gaza auf Flugblättern an. 

Der Hamas kommt die unmittelbar bevorstehende israelische Bodenoffensive gelegen. Militärisch ist die radikalislamistische Organisation den israelischen Truppen zwar deutlich unterlegen. Aus vier Gründen aber könnte der israelische Einmarsch in Gaza zum grauenhaften Triumph für die Terror-Bande werden.

1) Im Häuserkampf gelten eigene Regeln

Die Atommacht Israel verfügt über eine der besten Armeen der Welt mit einem topmodernen Waffenarsenal. Alleine 360'000 Reservistinnen und Reservisten (in Israel gilt die allgemeine Wehrpflicht auch für Frauen) hat Benjamin Netanyahus Regierung in den vergangenen Tagen aufgeboten. Dem gegenüber stehen geschätzte 30'000 Kämpfer der Al-Kassam-Brigaden, des militärischen Flügels der Hamas. Sie kämpfen mit Gewehren und oft selbstgebauten Raketen.

Die israelische Eliteeinheit Sayeret Matkal dürfte bei der Bodenoffensive in Gaza eine wichtige Rolle spielen.
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Auf dem Papier scheint die Sache also klar: Die Hamas hat keine Chance. Sobald der Kampf zwischen den ungleichen Gegnern aber in einer von der Hamas kontrollierten Stadt stattfindet, dreht sich der Spiess. Militärexperten wie der Brite Mike Martin betonen, zur Einnahme einer Stadt brauche es vier bis zehnmal mehr Kämpfer als zu ihrer Verteidigung. Zuletzt zeigte sich das in der ukrainischen Stadt Bachmut. Mehr als 20'000 russische Soldaten kamen bei der Eroberung der verhältnismässig kleinen Stadt ums Leben – deutlich mehr als auf der ukrainischen Seite.

Gaza, eines der dichtbesiedeltsten Gebiete der Welt, ist zusätzlich mit zahlreichen Tunnel-Systemen versehen, alle unter Kontrolle der Hamas. Für die Israelis könnte der Häuserkampf in Gaza zur tödlichen Falle werden, trotz ihrer militärischen Überlegenheit. 

2) Gefahr für neue Geiseln

Israel verfolgt mit dem Einmarsch in Gaza zwei Hauptziele: einerseits die Vernichtung der militärischen Infrastruktur der Hamas, andererseits die Befreiung der 120 Geiseln, die seit einer Woche in Gaza festgehalten werden. Laut der Hamas sind mindestens 10 der Geiseln bei israelischen Luftschlägen getötet worden. Bestätigen lässt sich diese Angabe nicht.

Das Risiko für Israel ist riesig, dass die Hamas während der Kämpfe auf ihrem Gebiet neue Geiseln aus den Reihen der israelischen Armee nehmen könnte. Zur Erinnerung: Im Herbst 2011 liess Israel 1027 gefangene Palästinenser frei im Tausch gegen den von der Hamas entführten israelischen Soldaten Gilad Shalit. Gelänge es der Hamas erneut, israelische Soldaten zu entführen, hätten sie ein extremes Druckmittel gegen Israel in der Hand.

Die israelischen Streitkräfte dürften ihrerseits versuchen, zentrale Figuren der Hamas zu entführen, um die festgehaltenen Geiseln in Gaza freizupressen.

3) Krieg der Bilder

Der neue Krieg im Nahen Osten ist auch ein Krieg der Bilder. Sowohl die Hamas wie auch Israel versuchen, die Welt mit der Präsentation bestimmter Fotos und Filmaufnahmen auf ihre Seite zu ziehen. Verletzte Zivilisten und tote Kinder spielen bei diesem schrecklichen Spiel eine zentrale Rolle.

Ein israelischer Bodenangriff in Gaza, wo Kinder und Jugendliche knapp die Hälfte der 2,3 Millionen Menschen ausmachen, würde zwangsläufig neue Schreckensbilder abwerfen, mit denen die Hamas versuchen wird, weltweit Hass auf Israel zu schüren. 

4) Bodeninvasion ruft Hisbollah auf den Plan

Die libanesische Miliz Hisbollah, eine vom Iran finanzierte militärische Extremistenorganisation, hat am Freitag offen damit gedroht, Israel vom Norden her anzugreifen, sollte der jüdische Staat seine Angriffe auf Gaza nicht sofort stoppen. Eine Bodeninvasion in Gaza wird die Hisbollah in ihrem Vorhaben bestärken, Israel direkt anzugreifen. Die Miliz verfügt über geschätzte 150'000 Raketen und mehr als 100'000 aktive Kämpfer in ihren Reihen.

Israel fände sich im Nu in einem Zwei-Fronten-Krieg wieder. Die Vermutung liegt nahe, dass sich bei einer Eskalation in Gaza auch der palästinensische Widerstand im Westjordanland intensivieren wird. Eine dritte Front dürfte für Israel zur ernsthaften Bedrohung werden.

Fazit: Israel wird auf die Terrorangriffe der Hamas mit voller Härte reagieren und alles daran setzen, die 120 Geiseln zu befreien. Das Risiko, das Israel damit eingeht, ist gewaltig.

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