Schweizer leiden in Brasilien unter LKW-Streik
«Die Leute sprechen von Krieg und ich kann nicht weg»

Weil die LKW-Fahrer in Brasilien streiken, versinkt das Land im Chaos. Mittendrinn ist der Schweizer Pensionär Walther Amsler, der nicht weg kann, weil sein Tank leer ist.
Publiziert: 28.05.2018 um 16:13 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2018 um 20:05 Uhr
Walther Amsler gemeinsam mit seiner Frau und dem 4-jährigen Sohn Victor Hugo. Er muss mitansehen, wie Brasilien innerhalb einer Woche ins Chaos stürzte.
Foto: Walther Amsler
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Fabian Vogt

Brasilien ist innerhalb einer Woche ins totale Chaos geschlittert. Weil die LKW-Fahrer wegen zu hohen Diese-Preisen streiken und die Strassen blockieren, kommt es im fünftgrössten Land der Erde zu Versorgungsengpässen. Die Regale in den Supermärkten sind leer, das Benzin ist alle. Wo vor einer Woche noch tausende Menschen flanierten, prägen nun Polizisten die Stadtbilder.

Die Regierung: planlos, hilflos. Am Freitag kündete Verteidigungsminister Joaquim Silva e Luna an, mit Militärgewalt die Streikenden zur Vernunft zu bringen. Man werde «auf eine schnelle, koordinierte und robuste Art» vorgehen, um dem Volk wieder Zugang zu den lebensnotwendigen Gütern zu gewähren. Die LKW-Fahrer drohten daraufhin mit Krieg, damit, ihre Tanks anzuzünden, sollten sie dazu gezwungen werden. Doch soweit kam es nicht, denn das Militär denkt nicht daran, den Anweisungen der Regierung Folge zu leisten. Im Gegenteil, derzeit wird über öffentlich über Putsch-Versuche nachgedacht.

Der Zorn der leidenden Bevölkerung derweil richtet sich nicht gegen die LKW-Fahrer, für die man Verständnis aufbringt. Sondern gegen die Regierung um Ministerpräsident Michel Temer, die als hochkorrupt gilt und beweist, in kritischen Situationen handlungsunfähig zu sein. Obwohl sie seit Monaten von den Sorgen der Trucker wusste, scheint sie völlig überrumpelt worden zu sein.

Schweizer leidet unter Knappheit

Mittendrinn in diesem Chaos ist auch Walther Amsler. Der 62-Jährige lebt seit 2004 in der brasilianischen Küstenstadt Tamandare, wo er mit seiner Frau einen 4-jährigen- Jungen aufzieht, der seine Mutter verloren hat. Die Situation ist dramatisch. Es gibt kaum mehr Lebensmittel in den Läden. Glücklicherweiserweise war ich letzte Woche noch einkaufen, doch diese Vorräte sind bald einmal aufgebraucht», sagt Amsler.

Man könne derzeit lediglich fünf Produkte, beispielsweise zwei Packungen Teigwaren und drei Liter Milch, kaufen, was niemals reichen würde: «Aufgrund der grossen Distanzen gehen die Menschen hier meist nur einmal im Monat einkaufen, was durch die Kontingentierung verunmöglicht wird.» Auch seien die Produkte innert Wochenfrist massiv teurer geworden. Bananen etwa kosteten am Markt noch vor wenigen Tagen 1.50 Real, heute über zehn.

Ölfirmen zur Vernunft zwingen

Tausende Lastwagen blockieren seit mehr als einer Woche Landstrasssen in allen Bundesstaaten. Gezielt werden Ölraffinerien umringt. Privatverkehr, Ambulanzen oder Tiertransporte werden durchgelassen, alle anderen Lastwagen müssen stoppen. Doch gefahren wird ohnehin kaum mehr, weil kaum jemand mehr Benzin hat.

Auslöser des Protests ist der steigende Dieselpreis. Der halbstaatliche Ölkonzern Petrobras erhöht seit Monaten immer wieder und ohne Ankündigung die Spritpreise, was vor allem kleine Unternehmen und autonome Fahrer vor existenzielle Probleme stellt. Präsident Temer hat Petrobras nun zu günstigeren Preisen gezwungen, was aber kaum positive Auswirkungen hatte. Stattdessen wollen diese Woche auch die Ölarbeiter in den Streik treten.

Die Wirtschaft ist derweil am kollabieren: 40 Prozent der Bauaktivitäten in ganz Brasilien seien gestoppt, heisst es beim Verband. Die meisten Schlachthäuser in der für Brasilien eminent wichtigen Lebensmittelindustrie haben ihren Betrieb eingestellt. Stattdessen ist auf Videos zu sehen, wie sich Hühner in den Lege- und Mastbatterien gegenseitig fressen. Auch Autofabrikanten haben die Produktion grösstenteils eingestellt – und das alles innerhalb einer Woche.

Benzin und Medikamente fehlen

Dem Pensionär Amsler fehlt es nebst Lebensmitteln auch an Benzin: «Ich kann meinen Sohn nicht mehr zur Schule fahren, weil nichts mehr im Tank ist. Ich denke aber ohnehin, dass die Schulen zu sind, weil wie wollen die Kinder anderer Eltern dorthin gelangen?» In Tamandare sind die Entfernungen riesig, da fährt man in den nächstgelegenen Kindergarten gleich einmal so weit wie von Zürich nach Winterthur.

Auch lebensnotwendige Medikamente würden nicht mehr geliefert, sagt der 62-Jährige. «Wenn die nicht mehr ankommen, was sollen wir tun?» Er denke deshalb ernsthaft darüber nach, ob er noch in Brasilien bleiben möchte. Die Situation werde immer dramatischer. «Die Leute sprechen von Krieg. Wenn in einigen Tagen kein Konsens gefunden wurde, wird die Situation eskalieren.» 

Doch wirklich eine Wahl hat Amsler nicht. Seine Familie einzupacken, an den Flughafen zu fahren und in die Schweiz zu fliegen, ist keine Option: Der Tank seines Autos ist leer.

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