Schweizerin im Ukraine-Krieg
«Jedes Mal, wenn ich glücklich bin, ist das ein Sieg»

Eva Samoylenko-Niederer hat im Donbass ein Kinderheim geführt – bis Putins Truppen im Krieg alles zerstört haben. Ihren Mann musste sie zurücklassen. Ihre Erinnerungen aber nahm sie mit auf die Flucht. Ein exklusiver Blick ins Kriegstagebuch der Wädenswilerin.
Publiziert: 18.02.2023 um 00:53 Uhr
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Aktualisiert: 20.02.2023 um 09:55 Uhr
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Samuel SchumacherAusland-Reporter

16 Jahre lang hat Eva Samoylenko-Niederer (41) aus Wädenswil ZH mit ihrem Mann in der Donbass-Stadt Slowjansk das Kinderheim «Segel der Hoffnung» betrieben. Dann kam der Krieg – und die Schweizerin flüchtete mit ihren drei Töchtern vor der russischen Armee. Putins Soldaten haben das Kinderheim zerstört. Ihren Mann musste sie im Donbass zurücklassen. Ihre Erinnerungen aber nahm sie mit und schrieb sie für Blick auf.

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Februar 2022: Am Vorabend des Krieges

«Eva, wir machen uns solche Sorgen.» Diese Nachricht erhalte ich mehrmals täglich. Wir sind bereit für alle Fälle, haben uns mit Lebensmitteln und Brennholz eingedeckt. Aber wir leben unseren ganz normalen Alltag: die Sonne im Garten geniessen, die Kinder von der Schule abholen, Freunde zum Abendessen einladen. Das ständige Nachdenken über den Krieg, der da vielleicht kommt, zehrt an den Nerven. Wir versuchen, alles auszublenden. Wir können eh nicht viel dagegen tun.

Am 24. Februar überfällt die russische Armee die Ukraine. Besonders heftig sind die Kämpfe im ostukrainischen Donbass, Eva Samoylenko-Niederers Heimat.

Eva Samoylenko-Niederer im Garten ihres Kinderheims in Slowjansk wenige Tage vor Kriegsausbruch. Das zerschossene blaue Tor im Hintergrund hat sie nie reparieren lassen – als Erinnerung an den ersten Angriff pro-russischer Separatisten 2014.
Foto: Samuel Schumacher
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Februar: Nächte im Raketenkeller

Es ist 2.38 Uhr in der Früh. Tausend Fragen schiessen mir durch den Kopf. Werden wir überleben? Haben wir noch eine Hauptstadt? Was sollen wir tun? Wir schlafen im Keller, zum Schutz vor den Raketen. Meine jüngste Tochter hat mich gefragt: «Mama, wird alles gut werden?» Ich konnte es ihr nicht versprechen. Ich weiss nur: Wir haben eine weitere Nacht überlebt, anders als so viele andere. An der Front, ganz nah von hier sterben sie, damit wir noch einmal friedlich schlafen können.

Die russischen Angriffe im Donbass dauern an. Das Beispiel der Stadt Mariupol zeigt: Die Russen schrecken nicht davor zurück, wehrlose Zivilisten zu töten.

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März: Flucht ins Ungewisse

Nur noch weg von hier im überfüllten Flüchtlingszug: Es gibt keine Tage mehr, es gibt kein Frühstück, kein Abendessen, keine Zeit. Wir schlafen, wann und wo auch immer wir eine freie Minute finden, sitzend, auf dem Bahnhofsboden liegend, auf einem engen Etagenbett in einem überfüllten, stickigen Zugwaggon. Etwa 20 Babys weinen. Und dann gehen die Lichter aus, der Zug wird langsamer und in der Ferne hört man die Luftschutzsirenen. Meinen Mann musste ich zurücklassen. Er hat mir gesagt: «Eva, wenn du mich liebst, dann geh und bring meine Kinder in Sicherheit.»

Millionen von Menschen verlassen fluchtartig das Kriegsland. Eva Samoylenko-Niederer entscheidet sich, in der Westukraine zu bleiben. Sie bringt es nicht übers Herz, ihre Wahlheimat zu verlassen. Erste Berichte über die Massaker in den Vororten von Kiew kommen ans Licht.

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April: Leben wie im Horrorfilm

Irpin, Makariw, Butscha: Ich habe die Bilder gesehen: alle fünf bis zehn Meter Leichen auf der Strasse. So etwas Schreckliches kenne ich nur aus Horrorfilmen. Was, wenn auch die Strassen in meiner Heimatstadt Slowjansk bald so aussehen werden?

Nach der erfolglosen Belagerung von Kiew ziehen sich die Russen aus der Gegend der Hauptstadt zurück. Das Ausmass der Kriegsverbrechen in den besetzten Gebieten wird immer offensichtlicher.

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April: Jeder Blick aufs Telefon ein potenzieller Schock

Ich will nur noch schlafen! Ich habe Angst, die Hunderte unbeantworteter Nachrichten auf meinem Telefon zu lesen und mit dem nächsten Schlag konfrontiert zu werden. Ich weiss nicht, woher ich die Kraft nehmen soll für all das. Wie soll man nur in einer Welt leben, in der ganze Städte ohne Rücksicht auf Unschuldige zerstört werden, in der Babys verhungern, in der Hunderte von Mädchen und Frauen vergewaltigt werden?

Mit ihrem Verein «Segel der Hoffnung» baut Eva Samoylenko-Niederer ein landesweites Helfer-Netzwerk auf. Bis Ende Jahr transportiert der Verein 7000 Tonnen Hilfsgüter in die kriegsversehrten Gebiete und evakuiert mehr als 30'000 Menschen mit Kleinbussen. Sie selbst koordiniert die Hilfsaktionen aus ihrer Unterkunft in der Westukraine.

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Juni: Intimer Akt des Widerstands

Ich merke, dass ich nicht die ganze Zeit an den Krieg denken darf. Putin und seine Soldaten haben mir mein Zuhause, meinen Job und viele meiner Freunde genommen. Ich werde nicht zulassen, dass sie mir noch mehr wegnehmen! Jedes Mal, wenn ich glücklich bin, ist das ein Sieg! Jeder Moment der Erfüllung ist ein Akt des Widerstands. Das Leben zu geniessen, heisst nicht, dass man all die Opfer nicht respektiert, im Gegenteil. Es gibt diesen Opfern mehr Bedeutung.

Die Donbass-Schlachten gehen ohne Pause weiter. Am 13. Juli zerstören russische Truppen das Kinderheim «Segel der Hoffnung» mit einer Rakete.

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Juli: Wenigstens sind die Kinder in Sicherheit

Das Gebäude unseres Kinderheims «Segel der Hoffnung» wurde vergangene Nacht von Artilleriefeuer zerstört. Überraschend kam das nicht, aber es tut trotzdem unglaublich weh. Schon im Krieg 2014 wurde das Heim stark beschädigt. Danach halfen Hunderte von Freiwilligen beim Wiederaufbau: ein Zeichen der Hoffnung und des Friedens in der Ostukraine. Jetzt ist das Gebäude wieder kaputt. Unser Lebenswerk aber geht weiter. Hunderte Kinder, die bei uns Zuflucht gefunden haben: All diese Kinder sind heute in Sicherheit. Wir sind nicht zerstört, wir geben nicht auf!

Die Ukraine startet Gegenoffensiven im Süden und im Nordosten. Im Donbass geht der rücksichtslose Artilleriekrieg unvermindert weiter.

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September: Endlich einmal weinen

Manchmal wünschte ich, es gäbe nicht so viele Menschen, die auf mich zählen. Ich wünschte, nur einen Tag lang würden all die dringenden Anfragen und die verzweifelten Hilferufe aufhören. Ich wünschte, ich könnte endlich einmal richtig weinen.

Die ukrainischen Truppen drängen die Russen weiter zurück. Das Blatt scheint sich zu wenden.

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September: Nach 200 Tagen endlich Hoffnung

Kupjansk, Swatowe, Isjum, Lyman, Swjatohirsk: Alle befreit! Mehr als 2000 Quadratkilometer ukrainischen Bodens zurückgeholt. 200 Tage lang hatte ich es nicht mehr gespürt, jetzt ist das Gefühl endlich wieder da: Wir wagen wieder zu hoffen. Wir sagen wieder «wenn wir dann nach Hause gehen», nicht mehr «falls wir nach Hause gehen». Ihr könnt euch nicht vorstellen, was für einen riesigen Unterschied dieses kleine Wort macht.

In der befreiten Stadt Isjum nur 50 Kilometer von Eva Samoylenko-Niederers Heimatstadt entfernt, finden die Befreier mehrere Massengräber. Die Bilder gehen um die Welt und sorgen für Entsetzen.

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September: Wegschauen liegt nicht drin

Von den 450 Leichen, die sie bislang aus den Massengräbern in Isjum geholt haben, sind 428 Zivilisten, viele mit gefesselten Händen und Folterspuren: 215 Frauen, 194 Männer, 5 Kinder und 11, die überhaupt nicht identifiziert werden konnten. Glaubt mir, ich will auch nicht mehr hinschauen. Aber ich kann nicht einfach still sein. Wir müssen andere Völker, andere Generationen davor bewahren, in dieselbe Falle zu tappen.

Russland lanciert im Herbst mehrere Grossangriffe auf die Energieversorgung der Ukraine. Immer wieder werden zivile Ziele getroffen. Eva Samoylenko-Niederer entscheidet sich, in die Schweiz zu fliehen. Am 4. November kommt sie bei ihren Eltern in Wädenswil an.

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Februar 2023: Kann man den Krieg vergessen?

Letzthin wurde ich gefragt, ob ich den Krieg manchmal für einen Moment vergessen könne. Wie könnte ich, wenn ich ständig solche Nachrichten erhalte: Sergei, der Ehemann meiner schwangeren Freundin Olga, erhielt gestern einen Marschbefehl. Er hat zwei Wochen Zeit, um seine Ausrüstung zusammenzustellen und sich zu verabschieden, dann muss er in den Krieg. Und beim Terrorangriff auf ein Wohnhaus in Kramatorsk wurde gestern mein Bekannter Wladimir schwer verletzt – nur einen Tag, nachdem er erfahren hatte, dass sein Sohn an der Front getötet worden war. Was mir Hoffnung gibt? Der harte Winter neigt sich dem Ende zu: Bald beginnt der Frühling – und in meinem Garten in Slowjansk werden die Blumen blühen.

Währenddessen fordert der ukrainische Präsident eine schnelle Hilfe aus dem Westen in Form von Panzern und weiterer Ausrüstung. «Wir müssen uns beeilen, wir brauchen Geschwindigkeit», sagte er auf der Münchner Sicherheitskonferenz.

«Verdursten ist ein akutes Problem»
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Schweizerin hilft in Slowjansk:«Verdursten ist ein akutes Problem»
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