Trotz Angst vor Russland
Darum leeren sich die Waffenkammern Europas

Die Ukraine schluckt mehr Waffen und Munition, als Europa nachliefert. Um schneller zu produzieren, muss die EU aber zuerst einige Probleme lösen. Eine Analyse.
Publiziert: 16.06.2023 um 21:08 Uhr
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Chiara SchlenzAusland-Redaktorin

Er tut es schon wieder. Mychajlo Podoljak (51), der Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski (45), regt sich am Dienstag auf Twitter über die seiner Meinung nach zu geringen europäischen Waffenlieferungen auf. Stattdesssen, findet er, sei der russische Angriffskrieg «für viele europäische Länder zu einer grossartigen Gelegenheit geworden, sich gewinnbringend aufzurüsten».

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Laut Podoljak treten mehrere Länder ihre alten Waffen und Ausrüstungen an die Ukraine ab, nur um sich «auf Kosten der strategischen Partner» neue, bessere Ausrüstung zu kaufen. Für Podoljak unverständlich. Konkrete Beispiele in seiner Anschuldigung fehlen allerdings. «Wäre es nicht besser, so viele Waffen wie möglich direkt auf das Schlachtfeld zu bringen und den Aggressor hier und jetzt zu besiegen?», schimpft er.

Europa unterstützt mit (fast) allen Mitteln

In einer Sache hat Podoljak recht: Russland ist die grösste Bedrohung für Europa. Das zeigt die brutale Invasion der Ukraine, Tag für Tag. Die deutsche Bundesregierung etwa bezeichnet in ihrer neuen Sicherheitsstrategie, die sie am Mittwoch vorgestellt hat, Russland als Problem Nummer 1.

Der Westen hält absichtlich neuere Waffen zurück, statt sie der Ukraine zu senden. Das zumindest behauptet der ukrainische Politiker Mychajlo Podoljak.
Foto: keystone-sda.ch
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Podoljak liegt aber auch falsch – und wahrscheinlich weiss er das auch: Europa hat gar keine neuen Waffen, die es hamstern könnte.

Denn die Waffenvorräte Europas neigen sich langsam dem Ende zu. Was die Alliierten sich immer wieder öffentlich eingestehen – auch gegenüber der Ukraine.

Die Ukraine kämpft nämlich schon mit einem Grossteil der europäischen Waffen. Beinahe ganz Europa hat schwere Waffen – Panzer, Kampfjets und Artillerie – an die Ukraine geliefert. Schon bis Februar haben EU-Institutionen 3,6 Milliarden Euro in die Militärhilfe für die Ukraine investiert, wie eine Auswertung der Daten des IFW Kiel zeigt.

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Hinzu kommt die Masse an Waffen und Munition, die einzelne EU-Ländern an die Ukraine geschickt haben. Deutschland hat schon 18 Leopard-Panzer und gepanzerte Fahrzeuge gesendet. Polen und die Slowakei haben die meisten ihrer MiG-29-Kampfflugzeuge aus der Sowjet-Ära entsandt, zusätzlich hat Polen 325 Panzer geschickt hat. Frankreich hat Luftabwehrsysteme, leichte Panzer und Haubitzen entsandt. Schweden schickt Haubitzen, Grossbritannien neu auch Langstreckenraketen. Die Liste ist nicht vollständig.

Ukraine kann sich verteidigen, Europa hat nichts mehr

Das Ergebnis der Militärhilfe: Die Ukraine kann sich gegen Russland zur Wehr setzen. Aber die europäischen Vorräte schrumpfen. Dieses Problem wird langsam akut. Ben Wallace (53), der britische Verteidigungsminister, sagte letzte Woche, dass die westliche Unterstützung für die Ukraine zwar unerschütterlich bleibe, «aber wir haben die Realität gesehen, dass uns allen die Verteidigungsgüter ausgehen».

Noch viel schlimmer: Diese Verteidigungsgüter, die Europa ausgehen, können nicht so schnell nachproduziert werden, wie sie gebraucht werden. Das hat einen guten Grund. Nach Jahrzehnten immer knapperer Budgets, Abrüstung und Konzentration auf Auslandseinsätze ohne militärische Interventionen sind die europäischen Waffenkammern nicht mehr so gut gefüllt.

Rüstungsfirmen investieren eigenes Geld

Nun wollen die Regierungen etwas tun, dass sie seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr getan haben: aufrüsten. Das ist die Lehre, die aus den Kämpfen in der Ukraine gezogen wird, die schwindelerregende Mengen an Munition und Ausrüstung verbrauchen.

Im April verabschiedete die Europäische Kommission einzig das mit 500 Millionen Euro dotierte «Gesetz zur Unterstützung der Munitionsproduktion». Damit sollen die Rüstungsfirmen ihre Kapazitäten ausbauen, um künftig mehr Munition und Raketen produzieren zu können. Für Europa, aber vor allem auch für die Ukraine. Dafür müssen sie aber erst mal ihre Produktionsstätten ausbauen – und vor allem zusätzliches Personal anstellen.

Viel mehr ist aber nicht passiert seither. Verträge mit Rüstungsfirmen bleiben grösstenteils aus. Das Gesetz droht ein Papiertiger zu werden. Zu spüren bekommen das die Ukrainer auf dem Schlachtfeld. Die laufende Gegenoffensive ist eine wahre Materialschlacht. Und ohne stete europäische Militärhilfe steht die Ukraine wohl bald mit leeren Händen da. Dem ist sich auch der Selenski-Vertraute Podoljak schmerzlich bewusst.

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