Warum der Iran noch nicht zum Angriff geblasen hat
Plötzlich ist ein Sieg der stillen Diplomatie möglich

Iran hat sich bisher mit dem angekündigten Vergeltungsschlag gegen Israel zurückgehalten. Die Rede ist von erfolgreichen diplomatischen Verhandlungen. Der ehemalige Schweizer Botschafter in Teheran, Tim Guldimann, hat aber eine ganz andere Vermutung.
Publiziert: 14.08.2024 um 17:27 Uhr
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Aktualisiert: 14.08.2024 um 18:21 Uhr
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Guido FelderAusland-Redaktor

Passiert noch ein Wunder? Der angekündigte grosse Vergeltungsschlag des Irans gegen Israel ist ausgeblieben. Bislang jedenfalls. Eine Bemerkung von US-Präsident Joe Biden (81) lässt hoffen, dass hinter dem lauten Säbelrasseln in aller Stille intensive diplomatische Verhandlungen zum Ziel geführt haben. Auf die Frage nach einer möglichen Waffenruhe sagte Biden: «Das ist meine Erwartung, aber wir werden sehen.»

War es die Diplomatie, oder hat die Zurückhaltung Irans doch andere Gründe, wie der ehemalige Schweizer Botschafter in Teheran und Berlin, Tim Guldimann (73), vermutet?

Fakt ist: Bei praktisch jedem Konflikt läuft die Diplomatie im Hintergrund weiter. Dominique Ursprung (40), Dozent für internationale Beziehungen an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), sagt: «Es gibt manchmal für die zerfahrensten Situationen zumindest eine Teillösung. So hat beispielsweise vor kurzem zwischen Russland und der Ukraine erneut ein Gefangenenaustausch stattgefunden.»

Seit Tagen laufen intensiven Verhandlungen: Der jordanische Aussenminister Ayman Safadi (r.) besuchte in Teheran den iranischen Amtskollegen Ali Bagheri.
Foto: keystone-sda.ch
Der Iran will den Tod des Hamas-Führers Ismail Hanija rächen. Teheran droht deshalb mit einem Vergeltungsschlag gegen Israel.
Foto: keystone-sda.ch
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Verhandlungen im Geheimen

Die diplomatischen Verhandlungen im Nahen Osten stehen unter der Koordination der USA, Ägyptens und Katars. «Es geht zuerst darum, unter den verfeindeten Parteien Vertrauen zu schaffen und gemeinsame Interessen auszuloten», sagt Ursprung. Dann komme es idealerweise zu einem Deal, der sehr eng und limitiert oder auch umfassender sein könne. 

Dass man über die Verhandlungen praktisch nichts erfährt, liegt in der Natur der Sache. Ursprung: «Wenn es um solche delikaten Gespräche geht, kann man die Öffentlichkeit nicht gebrauchen.» 

Auch passe es nicht, dass man sich militärisch bekämpfe und man gleichzeitig Fotos sehe, auf denen Vertreter der verfeindeten Parteien miteinander Kaffee trinken. 

Kommt der Waffenstillstand?

Der Schlüssel zu einer Waffenruhe in Nahost liegt im Gazastreifen. Erstmals seit Monaten findet am Donnerstag eine neue Verhandlungsrunde statt. Als Basis dient ein Plan von US-Präsident Joe Biden. Darin geht es in einer ersten Phase um die Freilassung von einem Teil der rund 120 Geiseln, die sich noch in den Händen der Hamas befinden, sowie das Einstellen der israelischen Offensive im Gazastreifen und den Abzug aus allen bewohnten Gebieten. 

In einer zweiten Phase sollen Israel und die Hamas über das «dauerhafte Einstellen der Kampfhandlungen» und einen Wiederaufbauplan für den zerstörten Gazastreifen verhandeln. Gleichzeitig würde die Hamas die restlichen Geiseln freilassen.

Berichtet wird zudem von einem Deal, den das Weisse Haus Teheran vorschlägt. So könnten die Verhandlungen für ein Atomabkommen wieder aufgenommen werden. Damit würde dem Westen die Kontrolle über das iranische Atomprogramm gewährt, während gleichzeitig die einschneidenden Wirtschaftssanktionen gelockert würden. 

Wirkung der Diplomatie nicht überschätzen

Tim Guldimann, Politikwissenschaftler und ehemaliger Schweizer Botschafter in Teheran und Berlin, warnt allerdings davor, die Möglichkeiten der Diplomatie zu überschätzen. Sie könne nur funktionieren, wenn die politischen Akteure eine Verständigung wollten.

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu (74) habe Interesse an einer Eskalation, um politisch überleben zu können. «Im Moment kann ich mir auch kaum vorstellen, dass die USA und der Iran überhaupt miteinander über Entspannung reden. Was sollten sie sich denn schon sagen wollen?» 

Guldimann glaubt weiter nicht, dass irgendwelche Deals wie eine Verbindung zu den Atomverhandlungen auf dem Tisch liegen. «Signale für ein Wiederaufwärmen des Nuklearabkommens ist vonseiten Teherans nur ein Geplänkel, damit man es sich mit dem Westen nicht ganz verdirbt.»

Iran lässt Muskeln spielen

Dass der Iran bisher die Waffen schweigen lasse, sei kaum auf diplomatische Bemühungen zurückzuführen. Vielmehr nutze der Iran als «Weltmeister der Vernebelung» den Zeitfaktor, um den Gegner im Ungewissen zu lassen. Generell habe Teheran kein Interesse an einer grossen Eskalation. Guldimann: «Es liegt aber in seinem Interesse zu drohen und so seine Muskeln als Regionalmacht zu zeigen.»

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