Auto-Design bei Hyundai
Wie in einem Comic

Auch die Fahrzeugentwicklung profitiert von der neuen digitalen Welt. So diskutieren Entscheidungsträger bei Hyundai heute mit Virtual-Reality-Brillen als Avatare an digitalen Modellen übers Design künftiger Autos.
Publiziert: 03.04.2022 um 11:28 Uhr
Wolfgang Gomoll

Der Mann mit Virtual-Reality-Brille und den Kontrollern in beiden Händen sieht aus wie ein Videospiel-Tester. Tatsächlich handelt es sich um einen Designer im deutschen Hyundai Technical Center Europe in Rüsselsheim (D). Und jede seiner Bewegungen führt zu einem Strich auf einem Bildschirm. Schnell entsteht auf dem Monitor eine Skizze des neuen Hyundai-Modells Seven Concept – statt wie bisher auf einem Blatt Papier nun virtuell. Die neuen Welten aus Bits und Bytes verändern den Entstehungsprozess eines Autos grundlegend.

«Früher dauerte die erste Designphase eines neuen Modells ein halbes Jahr. Jetzt sparen wir uns rund einen Monat», erklärt mir Hyundai-Europa-Chefdesigner Thomas Bürkle (62). Doch Zeitgewinn ist nicht der einzige Vorteil der neuen digitalen Technik. Weil die Entwürfe letztendlich Datensätze sind, kann die Kreativabteilung des koreanischen Autobauers quasi rund um die Uhr arbeiten. Machen die deutschen Hyundai-Designer nach einem langen Arbeitstag Feierabend, übernehmen die Kollegen im US-kalifornischen Irvine und danach jene im koreanischen Namyang.

Virtual Design spart Geld und CO₂

Wo früher in Handarbeit tonnenschwere und millionenteure Tonmodelle entstanden, die zudem zur Entscheidungsfindung des Managements rund um die Welt verfrachtet werden mussten, werden heute lediglich Daten hin- und hergeschickt. Anstelle mühevoller Verbesserungen mit Skalpell und Schaber am Tonmodell werden Änderungswünsche ruckzuck per Computergrafik erledigt. Das alles spart Geld, beschleunigt den Entwicklungsprozess und verringert die CO₂-Bilanz deutlich. Allerdings: Ganz ohne Tonmodelle geht es doch nicht. Nur werden diese inzwischen aufgrund elektronischer Daten maschinell gefräst und nicht mehr von Hand modelliert. Gemäss Chefdesigner Bürkle liegt das Verhältnis von analoger zu virtueller Arbeit inzwischen bei 20 zu
80 Prozent.

Der Mann mit seiner Virtual-Reality-Brille und den Kontrollern in beiden Händen schaut aus wie ein Tester eines neuen Videospiels.
Foto: www.weigl.biz
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Die Treffen mit dem Management oder den unterschiedlichen Designabteilungen finden jetzt nicht mehr analog auf drei Kontinenten, sondern in einem Saal statt. An der Decke sind 46 Kameras und an der Wand ein riesengrosser Monitor angebracht. Die Videowand ist Hightech: Sie hat eine native Auflösung von 8K, eine interne Bildwiederholungsrate von 7680 Hz und mit lediglich 0,8 Millimetern den weltweit kleinsten Abstand zwischen zwei Bildpunkten. So sind gestochen scharfe Bilder möglich.

Die Hyundai-Designer werden von überall in der Welt zugeschaltet. Die Ausrüstung für eine Teilnahme an solchen Meetings passt in einen kleinen Rucksack. Nötig sind nur schnelles Wifi-Netz, ein Laptop und die Virtual-Reality-Brille. Ein kalifornischer Hyundai-Designer erzählt, wie er in seinem Alien-Outfit vor einem Starbucks sass und an einem solchen Meeting teilgenommen hatte: «Die Passanten schauten mich mit grossen Augen an und wunderten sich, was ich da mache.»

Interaktionen wie in einem Videospiel

Ich darf mir jetzt ebenfalls eine Virtual-Reality-Brille schnappen, sie mir aufsetzen und mich exklusiv in die Hyundai-Designkonferenz einschalten. Lustig, die Situation im grossen Raum erinnert an einen Comic-Film. Die Teilnehmer sind alle als Avatare sichtbar und diskutieren per Mikrofon und Kopfhörer. Interaktionen laufen ab wie in einem Videospiel. Das zu besprechende Auto dagegen, das Hyundai Seven Concept, sehe ich gestochen scharf – und es sieht extrem real aus. Selbst Lichtkanten sind sichtbar und feine Texturen der Innenraumoberflächen. Nun bewege ich mich ums Auto herum, öffne Türen und beuge mich in den Kofferraum. Unglaublich, wie realistisch das Modell ausschaut. Wer die Grafik des Konsolenspiels «Gran Turismo» kennt, muss sich diese um ein Vielfaches exakter vorstellen. Per Knopfdruck wechsle ich die Szenerie. Stand das Seven Concept eben noch in Los Angeles an einem Strand, umgibt jetzt eine Schneelandschaft das Auto. Auf ähnliche Weise lassen sich auch verschiedene Lichtverhältnisse simulieren.

Diese neue Form der globalen, virtuellen Zusammenarbeit eröffnet bisher undenkbare Möglichkeiten. So können jetzt drei Designer gleichzeitig im Fahrersitz Platz nehmen, um so aus demselben Blickwinkel über ein Detail zu diskutieren – egal, ob sie gerade in Europa, Asien oder in den USA weilen. Damit sind wichtige Entscheidungen auf dem kurzen Dienstweg machbar. Ein Mail oder ein Anruf genügen, und schon trifft man sich beim Auto.

Zeit- und Erfolgsdruck wird grösser

Neben der Karosserie lassen sich auch Interieurstoffe und andere Oberflächen extrem realistisch darstellen, nachdem sie zuvor eingescannt wurden. Farbe und Textur können per Knopfdruck verändert werden. «Früher mussten wir dazu erst neue Proben bestellen», sagt Designchef Thomas Bürkle. «Einer der grössten Vorteile der Digitalisierung ist für uns deshalb die gesteigerte Effizienz bei der Entwicklung. Wir können so die Technik-Ingenieure viel schneller ans Auto lassen als früher.» Durch die engere Verzahnung steigt natürlich das Entwicklungstempo generell, und es lassen sich Dinge realisieren, die ohne virtuelles Design nicht möglich gewesen wären – etwa der Business-Class-Sitz mit hochklappbarer Beinablage oder die verschiebbare Mittelkonsole beim neuen Hyundai-Elektromodell Ioniq 5, verrät Thomas Bürkle. Doch wie alle neuen technischen Errungenschaften hat auch diese Medaille eine Kehrseite. «Der Zeitdruck ist gewachsen», so der europäische Hyundai-Designchef. «Und wir müssen liefern.»

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