Interview mit VCS-Präsident Ruedi Blumer
«Wir übertreiben mit der Mobilität»

Mit dem neuen CO2-Gesetz will die Schweiz helfen, die Erderwärmung zu stoppen. Letzte Woche erklärte hier ACS-Präsident Thomas Hurter, warum er gegen höhere Abgaben für Autofahrer ist. Nun legt VCS-Präsident Ruedi Blumer seine Sicht der Dinge dar.
Publiziert: 30.05.2021 um 05:00 Uhr
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Aktualisiert: 30.05.2021 um 16:12 Uhr
Interview: Martin A. Bartholdi

Herr Blumer, ist der Autofahrer die Milchkuh der Schweiz?
Ruedi Blumer:
Nein, ist er nicht. Aber er muss seinen Teil zum Klimaschutz beitragen, was er bisher nicht tut. Drei Hauptsektoren verursachen in erster Linie CO2: Verkehr, Gebäude und Industrie. Motorisierter Individual- und Flugverkehr machen mit 40 Prozent das grösste Stück des CO2-Kuchens aus. Und dieser Anteil wird immer grösser, weil die anderen zwei Sektoren im Gegensatz zum stetig wachsenden Verkehr ihren Anteil reduzieren konnten.

Aber der CO2-Ausstoss des motorisierten Individualverkehrs ist im Verhältnis weniger stark gestiegen als die Anzahl Autos.
Das ist keine Entschuldigung. Es gibt auch mehr Wohnungen, und dennoch ging der CO2-Ausstoss bei den Heizungen zurück. Deshalb sind die Fortschritte beim Strassenverkehr ungenügend.

Und deshalb wird der Autofahrer zur Kasse gebeten?
Ja, das CO2-Gesetz macht Benzin und Diesel teurer. Aber wir sprechen hier von maximal 12 Rappen. Das ist sehr bescheiden. Wir vom VCS hätten uns eine höhere Abgabe gewünscht. Der Benzinpreis schwankt schon innerhalb eines Jahres um 12 Rappen oder mehr. Das schlucken die Autofahrer ohne Murren. Mittelfristig kommt das Gesetz den Autofahrern sogar entgegen, denn das Fahren selbst bleibt ja von einer CO2-Abgabe befreit. Nur der Treibstoff wird besteuert. So hat es jeder selber in der Hand. Wer sich für ein besonders sparsames, sprich kleines und leichtes Auto entscheidet, zahlt deutlich weniger Abgaben, weil er deutlich weniger Treibstoffkosten hat. Und wer sich für ein E-Auto entscheidet, zahlt gar keine Abgaben.

Der VCS steht hinter dem neuen CO2-Gesetz.
Foto: VCS
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Sie gehen davon aus, dass der Maximalbetrag ausgeschöpft wird?
Nicht von Anfang an, aber mittelfristig bestimmt. Wir reizen doch alle unsere Möglichkeiten bis zum Maximum aus. Wenn das Tempolimit 120 km/h ist, fahre ich auch 120 und nicht nur 100 km/h.

Persönlich Ruedi Blumer

Ruedi Blumer (52) ist Zentralpräsident des Verkehrs-Clubs der Schweiz (VCS) und vertritt die SP im St. Galler Kantonsrat. Nach abgeschlossenem Lehrerseminar arbeitete er 11 Jahre als Klassenlehrer in Mollis GL und Gossau SG. Danach war er Informatiker bei der Axa-Winterthur und Projektleiter Teamentwicklung bei der Migros Ostschweiz. 2001 kehrte Blumer als Schulleiter in Wil SG an die Schule zurück, bis er 2018 das Amt des VCS-Präsidenten antrat. Nebenamtlich ist er Beirat beim FC St. Gallen und der St. Galler Laufbahnberatung. Blumer ist verheiratet und hat drei Töchter.

Ruedi Blumer (52) ist Zentralpräsident des Verkehrs-Clubs der Schweiz (VCS) und vertritt die SP im St. Galler Kantonsrat. Nach abgeschlossenem Lehrerseminar arbeitete er 11 Jahre als Klassenlehrer in Mollis GL und Gossau SG. Danach war er Informatiker bei der Axa-Winterthur und Projektleiter Teamentwicklung bei der Migros Ostschweiz. 2001 kehrte Blumer als Schulleiter in Wil SG an die Schule zurück, bis er 2018 das Amt des VCS-Präsidenten antrat. Nebenamtlich ist er Beirat beim FC St. Gallen und der St. Galler Laufbahnberatung. Blumer ist verheiratet und hat drei Töchter.

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Die E-Mobilität kommt immer mehr in Fahrt. Braucht es das CO2-Gesetz überhaupt noch?
Ja, die E-Mobilität kommt immer noch zu langsam in Schwung. Dabei ist aber wichtig, dass wir genug und vor allem umweltfreundlichen Strom produzieren. Aus Sicht des VCS ist es nicht damit getan, den Diesel durch ein E-Auto zu ersetzen. Das wäre nur die zweitbeste Variante. Die beste Variante ist, gar kein Auto zu nutzen. Also erst die Überlegung: Brauche ich das Auto überhaupt? Und falls ja, dann gerne ein rein elektrisches. Und dieses sollte sparsam sein – und wir möglichst nicht alleine drin sitzen.

Folglich sollten wir unser Mobilitätsbedürfnis reduzieren?
Genau! Wir übertreiben mit der Mobilität. Jetzt mussten wir wegen Corona herunterfahren, und auch wenn wir alle hoffen, dass es bald ein Ende hat, müssen wir unsere Lehren daraus ziehen. Es gibt viele Dinge, die wir im Homeoffice genauso gut oder besser erledigen können. Genauso lassen sich viele Sitzungen per Video abhalten. So sparen wir viele unnötige Fahrten. Nehmen wir diese Erkenntnis mit und fahren unsere Mobilität künftig nachhaltig zurück, leisten wir einen wesentlichen Beitrag zum Klimaschutz.

Das Auto erlebt während Corona eine Renaissance. Beunruhigt Sie das?
Ja, das ist eine unschöne Entwicklung. Es ist oft unsinnig, unsere 70 Kilogramm mit einem zwei Tonnen schweren Koloss von A nach B zu bewegen. Leider greifen die Menschen aus Angst vor Ansteckungen wieder vermehrt darauf zurück. Dabei sind mehr als die Hälfte aller Fahrten nicht weiter als fünf Kilometer. Das lässt sich problemlos auch mit dem Velo bewältigen. Dass zu viele trotzdem das Auto nehmen, ist ein Zeichen unseres Wohlstands. Wir können uns den Luxus von schweren und übermotorisierten Fahrzeugen leisten und überlegen zu wenig, wie schlecht das fürs Klima, unsere Gesundheit und die Raumentwicklung ist.

Und dazu brauchen wir das CO2-Gesetz?
Wir müssen das gesamte Mobilitätssystem klimagerechter machen. Dafür ist der Bau neuer Strassen nicht zielführend. Wir müssen weg vom eigenen Auto sowie von grossen und schweren Autos und mehr auf Sharing-Modelle, kleine Autos und das Velo oder E-Bike setzen. Das CO2-Gesetz und seine Massnahmen schaffen Voraussetzungen, um unser Mobilitätsverhalten schneller zu ändern und nachhaltiger zu machen. Mit dem Klimafonds können wir beispielsweise die Elektro-Ladeinfrastruktur ausbauen, was vielen das Umsteigen erleichtert. Aber es eilt, und deshalb müssen wir mit Vorschriften lenken. Wenn im Quartier eine Tafel «Tempo 30 freiwillig» steht, halten sich nur wenige dran. Wenn aber eine offizielle Tempo-30-Zone eingeführt wird, müssen sich alle daran halten.

Das Auto weckt aber auch Emotionen ...
… und hier liegt vermutlich das Problem. Diese Faszination habe ich nicht. Aber mir ist bewusst, dass viele sie haben. Doch mit dem Generationenwechsel ist auch ein Gegentrend zu spüren. Viele junge Erwachsene machen den Führerschein gar nicht mehr. Und wenn doch, haben sei kein eigenes Auto. Denn gerade bei den Jungen greift unsere Kampagne, mit der wir ein Bewusstsein für die Masslosigkeit von grossen Autos wecken wollen. Das freut mich. Ich bin auch zuversichtlich, dass die Klima-Bewegung der Jugend wieder aktiv wird, sobald Corona das zulässt. In der jungen Bevölkerung ist eine Sensibilisierung für klimabewusste Mobilität zu spüren, und um deren Zukunft geht es ja genau.

Könnte es ein Nachteil sein, dass eher die ältere Generation und weniger die Jungen an der Urne abstimmen?
Ich bin überzeugt, dass das CO2-Gesetz eine Mehrheit finden wird. Aber ja, es gibt zu viele stimmfaule Junge. Es ist schade, dass sie ihre Rechte zu wenig nutzen. Aber die Mobilität geht alle etwas an, auch die Jungen. Und deshalb erwarte ich eine hohe Stimmbeteiligung.

Wieso sind Sie so zuversichtlich, dass das CO2-Gesetz angenommen wird?
Weil der Klimawandel auch bei uns ganz direkt zu spüren ist. Die Menschen realisieren die extremen Wetterlagen wie Stürme, starke Regenfälle, Hitzeperioden mit Ernteeinbussen und die schmelzenden Gletscher. Die Stimmberechtigten sind so solidarisch und erkennen, dass unser reiches und privilegiertes Land seinen Beitrag leisten muss, um dieses globale Problem in den Griff zu bekommen.

Was würde ein Nein für die Umwelt und den Ruf der Schweiz bedeuten?
Das wäre ganz bitter und eine Bankrotterklärung unserer Klimapolitik. Dazu würden wir wichtige Zeit verlieren. Wir müssen jetzt handeln, wenn wir den Klimawandel aufhalten wollen. Wir würden wohl europa- oder gar weltweit Prügel einstecken. Ausgerechnet beim globalen Problem Nummer 1, dem Klimawandel, würde sich die reiche Schweiz, die sich einen Namen durch vorbildliches Verhalten und Verlässlichkeit gemacht hat, den nötigen Massnahmen verweigern.

Wie wollen Sie noch unentschlossene Stimmbürger von Ihrem Standpunkt überzeugen?
Dieses CO2-Gesetz ist ein gut schweizerischer Kompromiss. Aus Sicht des VCS sind es moderate Massnahmen mit verkraftbaren Zuschlägen auf Benzin und Flugtickets. Dazu wird klimafreundliches Verhalten belohnt, und viele erhalten mehr zurück, als sie vorher zusätzlich berappen mussten. Das Gesetz ist breit abgestützt. Ausser der SVP sind alle Parteien dafür. Selbst die Wirtschaftsverbände und auch der TCS stehen dahinter. Nur Auto- und Erdöl-Lobby sind dagegen, weil sie ihre Geschäfte und Gewinne in Gefahr sehen. Die Mehrheit der Wirtschaft sieht neue Innovationsmöglichkeiten.

Die Gegner behaupten genau das Gegenteil. Das Gesetz hemme Innovation.
Heute fliessen Milliarden von Franken in den Nahen Osten, um Erdöl einzukaufen. Wenn wir unsere Mobilität umstellen, können wir diese Milliarden investieren, um neue Technologien voranzutreiben. Und zwar hier in der Schweiz. Das CO2-Gesetz schreibt nicht vor, welche Technologien, sondern gibt die Richtung vor: weniger CO2-Ausstoss. Aber ohne das Gesetz fehlt der Druck für innovative Entwicklungen, und der Fortschritt beim Klimaschutz und der Energiewende würde sich verlangsamen. Autoindustrie und Zulieferer werden in Elektroantriebe und Batterierecycling oder andere Technologien wie Wasserstoff und synthetische Treibstoffe investieren. Das schafft zahlreiche neue Arbeitsplätze. Als keine Pferdekutschen mehr fuhren, brauchte es den Hufschmied nicht mehr, und er musste sich umschulen. Das gehört zum Fortschritt.

Das Stimmvolk entscheidet am 17. Juni an der Urne über das CO2-Gesetz. Neben den Autofahrern sind auch Reisende und Hausbesitzer betroffen. Eine genaue Zusammenstellung finden Sie hier. Lesen Sie hier die Argumente der Gegner.

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