Nachruf auf Sergio Marchionne und das Ende einer Ära
Kämpfer ohne Krawatte

Mit Sergio Marchionne verliert die Automobilindustrie nicht nur einen ihrer einflussreichsten Manager, sondern auch einen der wenigen Charakterköpfe. Der zudem nie um starke Sprüche verlegen war.
Publiziert: 25.07.2018 um 17:46 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2018 um 17:49 Uhr
An seinen Pressekonferenzen war Sergio Marchionne immer für eine Überraschung gut, weshalb BLICK-Autochef Andreas Faust, wenn irgendwie möglich, dabei war.
Foto: Werk
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Andreas Faust, BLICK-Autochef

Seine Auftritte waren legendär – und eine Wundertüte: Wie lange wird er sprechen? Was wird er sagen? Wird seine Laune auch die eine oder andere kritische Frage überstehen? Und vor allem: Kommt er überhaupt?

Als CEO von Fiat-Chrysler (FCA) war Sergio Marchionne unberechenbar. Er verweigerte sich den gängigen Usancen der Autoindustrie – nicht nur im Hinblick auf sein Outfit. Jeans und Pullover, Symbole für seine nüchterne, unprätentiöse Einstellung, die man auch an Presseterminen spürte. Kein Reden um den heissen Brei, sondern Klartext. Er erklärte im tiefen Bariton seine oft sehr eigene Sicht auf die Welt. Nicht immer erfuhr man, was man wissen wollte. Aber immer fühlte man sich unterhalten. Pointiert, ironisch, hintergründig – Sergio Marchionne beherrschte das Spiel wie kaum jemand in der Branche. Wenn irgend möglich, ging ich an seine Pressekonferenzen.

Rettet zwei Autokonzerne

Und wurde nie enttäuscht. Dabei gebe ich zu: Auch ich hatte den Kopf geschüttelt, als der italo-kanadische Wahlschweizer als Fiat-Chef 2009 mitten in der Finanzkrise mit dem US-Konkurrenten Chrysler eine Allianz einging und 2014 beide Konzerne zur FCA verschmolz. Wie bitte, sollte Fiat bloss die taumelnde Marke Chrysler am Leben erhalten? Das Gegenteil wurde der Fall. Chrysler hatte seine Konsolidierung hinter, Fiat seine noch vor sich. Die Gewinne vor allem der Chrysler-Tochter Jeep führten FCA wieder nach oben. Im Juni konnte der zwischen den Kontinenten pendelnde Vielflieger die Schuldenfreiheit verkünden. Seine grösste Aufgabe hatte er erfüllt.

Spezielle Liebe zum Auto

Autofans hatten es nicht leicht mit ihm. Mit Alfa Romeo liess er ausgerechnet die leidenschaftlichste italienische Marke lange brach liegen – und reanimierte sie nicht mit Sportcoupés, sondern einem SUV. Und die Legende Lancia sperrte er ohne Wimpernzucken faktisch zu: «Jetzt vergessen sie endlich Lancia!», rief er letztes Jahr am Genfer Salon einem lamentierenden italienischen Kollegen zu.

In geschäftlichen Dingen war seine Liebe zum Auto kaum zu spüren. Ruhmreiche Vergangenheit? Die schöne neue elektrische und autonome Zukunft? Sergio Marchionne war die Gegenwart wichtiger und wie sie sich in Zahlen ausdrücken liess. Möglichst in schwarzen.

Eigene Sicht auf die Autowelt

Immer wieder kokettierte er mit künftigen Fusionen. General Motors, Volkswagen – niemand war vor seinen Avancen sicher. Weil er allein an Grösse glaubte, wenn es um das Überleben in der Autoindustrie ging. Und wahrscheinlich lag er auch damit richtig, obwohl ich, wie viele Kollegen, bei seinen Aussagen oft ungläubig dreinschaute.

Seine Nachfolge bei FCA ist geregelt, und sicher wird Mike Manley dieser Aufgabe gewachsen sein. Aber die Lücke, die Sergio Marchionne hinterlässt, wird er nicht füllen können. «Das ist eine ziemlich dumme Frage! Aber ich sage gerne noch einmal, was ich meine.» – Lieber Sergio Marchionne, von niemandem sonst haben wir uns so gerne die Autowelt erklären lassen. Sie werden uns fehlen.

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