Prototypenerprobung des neuen Mercedes SL
Kampf um jeden Millimeter

Der neue Mercedes SL soll wieder sportlicher werden. Deshalb haben bei der Neuauflage die Experten von Sport-Tochter AMG das Zepter in der Hand. Wir fahren mit Technikchef Jochen Hermann im nur leicht getarnten Prototypen.
Publiziert: 26.09.2021 um 15:20 Uhr
Wolfgang Gomoll

«Sehen Sie, der Wagen bleibt absolut stabil», strahlt AMG-Technikchef Jochen Hermann. Und bewegt das Steuer erst nach links, danach wieder nach rechts. Bei solchen Lastwechseln bricht das eine oder andere Fahrzeugheck schon mal aus. Der neue Mercedes-AMG SL dagegen zieht unbeeindruckt seine Bahn – kein Wippen, kaum Neigung. Hilft da eine Wankstabilisierung? «Darüber darf ich Ihnen leider noch keine Auskunft geben», schmunzelt der AMG-Technikchef.

Auch beim sonoren Motorsound und den Antriebsvarianten hält sich Hermann bedeckt. Sagt dann aber doch: «Wer einen V8 will, will auch einen solchen Klang.» Also wird es sich bei unserem leicht getarnten Prototypen um den 63er-AMG handeln – mit rund 600 PS. «Im Fahrmodus Sport plus lassen wir die Hinterachse etwas mehr mittänzeln», sagt Jochen Hermann, ehe er entspannt und in einem Zug eine 180-Grad-Kehre hinlegt. Aha, eine Hinterachslenkung hat der neue SL also auch.

Weg vom behäbigen aktuellen Modell

Der Roadster SL ist die Seele von Mercedes, die Verbindung vom legendären Flügeltürer in die Marken-Gegenwart, die immer elektrischer wird. Für die Mercedes Sportabteilung AMG und ihren Technik-Chef war klar: «Wir bringen den SL dahin zurück, wo er herkommt.» Also weg vom komfortablen, aber etwas behäbigen aktuellen Modell. «Für mich muss sich ein Sportwagen präzise, vorhersehbar und wiederholbar verhalten», gibt der Ingenieur Einblick in sein Lastenheft. Dabei hilft es, dass die Truppe um Jochen Hermann vor fünf Jahren auf «einem weissen Blatt Papier» mit der Entwicklung des Roadsters beginnen durfte. Das gilt nicht zuletzt für die neue Architektur, die aus einer Kombination eines Alu-Spaceframe mit selbsttragender Struktur besteht. Die Verwendung von Leichtbau-Materialien wie Alu, Magnesium und Karbon sorgt gezielt für weniger Gewicht an den für die Fahrdynamik entscheidenden Stellen.

Der neue Mercedes SL soll wieder sportlicher werden.
Foto: ZVG.
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Aufwendige Fahrwerkskonstruktion

Beim Definieren des Fahrverhaltens hilft Software zusammen mit der Erfahrung der Techniker. Für den SL gilt die Maxime des sportlichen Gleiters – und zwar in jeder Situation. Das spüre ich beim Ausprobieren der verschiedenen Fahrprogramme. Im Fahrmodus Sport plus ist der Achtzylinder nicht zu überhören. Dazu strafft sich der SL spürbar, ohne nervig hart zu werden; selbst auf schlechten Strassen poltert das Fahrwerk nicht. Im Komfortmodus federt das Fahrwerk die Karosserie geschmeidiger ab, wippt aber nicht störend nach. Jochen Hermann setzte beim Entwickeln die Physik vor die Elektronik: Erst wird das Fahrwerk mechanisch möglichst perfekt eingestellt. Dann folgt die Verfeinerung per Software.

Kampf um jeden Millimeter

Der Umstieg vom festen Klapp- aufs leichtere Stoffdach hat einige Konsequenzen. Um den Platz fürs Verdeck, die hinteren Plätze des 2+2-Sitzers und die Hinterachslenkung zu bekommen, wanderte das Getriebe nach vorne direkt hinter den Motor. «Es war ein Kampf um jeden Millimeter», verrät Jochen Hermann und zeigt aufs flach ausgestellte Radhaus des vorderen Kotflügels. «So etwas wollen die Designer. Aber wir Ingenieure brauchen Platz fürs Fahrwerk», verdeutlicht er das Ringen der zwei Fraktionen. Das Resultat ist wie so oft ein Kompromiss beim Design. Aber ein gelungener, auch dank des AMG-obligatorischen Panamericana-Kühlergrills und einer aktiven Aerodynamik.

Neigbarer Touchscreen im Cockpit

Der Innenraum nimmt mit einem senkrecht stehenden Display Anleihen bei der S-Klasse, ohne jedoch in die Anzeigen-Opulenz des Luxuskreuzers zu verfallen. Vor allem das Instrumenten-Display fällt deutlich kleiner aus, und die Neigung des zentralen Touchscreens über der Mittelkonsole lässt sich per Knopfdruck verstellen, damit man bei allen Licht- und Sonnenverhältnissen im offenen Auto die Anzeigen ablesen kann. Standesgemäss sitzt man auf fein gesteppten Ledersitzen. Applikationen aus Klavierlack oder Chrom vervollständigen den Nobel-Eindruck.

Wem jetzt das Wasser im Mund zusammenläuft, der sollte zu sparen beginnen. Denn ein Schnäppchen wird die ab Anfang nächsten Jahres erhältliche SL-Neuauflage bestimmt nicht. Ich versuche erst gar nicht, aus Hermann einen Preis herauszukitzeln. Darüber darf er mir sicher «leider noch keine Auskunft geben».

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