Psychische Erkrankungen während Corona – BLICK-Leser erzählen
«An depressive Menschen denkt einfach wieder niemand»

Die Corona-Krise kann für Menschen mit psychischen Problemen besonders belastend sein. Ein Leser und eine Leserin erzählen, was ihnen am meisten Mühe macht.
Publiziert: 14.04.2020 um 11:07 Uhr
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Aktualisiert: 03.12.2020 um 14:54 Uhr
Karin A. Wenger

Corona bestimmt zurzeit unser Leben. Die Nachrichten über Infizierte und Tote jagen sich, alltägliche Routinen fallen weg, viele sind allein zu Hause in der Isolation.

Die Krise belastet alle. Doch für Menschen mit psychischen Problemen kann die Situation besonders schwierig sein. Knapp ein Fünftel der Schweizer Bevölkerung leidet an einer psychischen Erkrankung. Ein BLICK-Leser und eine Leserin erzählen, wie es ihnen geht.

«Mir fehlt der Antrieb»

Fabian Hauser* (45) ist depressiv. Er machte anfangs Jahr drei Monate stationär einen Alkoholentzug. Seither ist er in einer Tagesklinik eingebunden, doch diese hat wegen des Coronavirus geschlossen. Mit seinem Betreuer telefoniert er seither täglich.

Fabian Hauser* (45) ist depressiv. Er machte anfangs Jahr drei Monate stationär einen Alkoholentzug.
Foto: zVg

«Es ist ein Auf und Ab. Auf einer Skala von minus bis plus zehn bin ich momentan etwa auf minus vier. Bei einer Depression ist sozialer Kontakt eigentlich sehr wichtig. Normalerweise gehe ich je einmal pro Woche Tischtennis und Billard spielen mit Kollegen. Auch wenn ich einen schlechten Tag habe, raffe ich mich dazu auf, weil wir haben ja abgemacht. Das fällt jetzt weg. Mir fehlt der Antrieb. Sehr positiv finde ich, dass ich wieder mit vielen Personen Kontakt habe, von denen ich schon lange nichts mehr gehört habe. Aber dann ist da noch der Alkohol. Ich frage mich manchmal: Wieso foltere ich mich so? Warum trinke ich nicht einfach?»

Zwanzig Jahre lang führte Fabian Hauser ein eigenes Geschäft in der Werbebranche. Er nimmt jeden Auftrag an, kann nie Nein sagen, beginnt nach dem Abendessen und am Wochenende ins Büro zu gehen. Er erwacht pro Nacht bis zu neun Mal, um sich Gedanken zu Aufträgen aufzuschreiben. Die Notizzettel hat er aufbewahrt. Doch unter Druck kann er nicht kreativ sein.

«Ich habe seit Jahren jeden Abend ein Bier getrunken. Das ist das Gefährliche am Alkohol, es ist eine gesellschaftlich anerkannte Droge. Es geht so schnell. Zuerst half mit der Alkohol, ruhiger und kreativer zu sein. Aber irgendwann kippte es, und ich konsumierte mehr, als ich arbeitete.»

Das war vor einigen Jahren. Ihm wurde eine Erschöpfungsdepression diagnostiziert, er machte einen Entzug. Danach ging es ihm manchmal besser, manchmal hatte er Rückfälle. Vergangenes Jahr entschied er sich dazu, seinen Betrieb aufzulösen und sich eine Auszeit zu nehmen. Hauser reiste auf eine Insel. Von dort aus schrieb er Bewerbungen auf neue Jobs und genoss das Leben. Sonne, Meer, Barbecue – und viel Alkohol.

«Ich hatte vor, mindestens ein halbes Jahr auf der Insel zu bleiben. Nach drei Monaten merkte ich, dass es so nicht weitergeht. Ich hätte mich ohrfeigen können, ich wohnte dort in so einem schönen Studio. In der Schweiz machte ich dann drei Monate einen Entzug. Danach wurde die Depression wieder stärker und ich gehe seither tagsüber in eine Klinik in Therapie.»

Als die Tagesklinik wegen Corona geschlossen wurde, konnte Hauser vorübergehend bei einem Kollegen wohnen. Jetzt muss er zurück in seine Wohnung. Alleine zu Hause leben ist für ihn eine Risikosituation.

«Die Tagesklinik hat mir Pläne verteilt mit Zeiten von sieben Uhr morgens bis Mitternacht. Dort schreibe ich Tages- und Wochenziele auf. Ich nehme mir zum Beispiel vor, mein Fotoarchiv zu ordnen, spazieren zu gehen oder mich auf Jobs zu bewerben. Je nach Tagesform ist es aber schwierig, mich zu motivieren. Ich mache mir Sorgen, dass ich keinen Job finde, weil nun vielen Unternehmen die Aufträge wegbrechen. Es kommt mir sicher zu Gute, dass ich wegen den Antidepressiva gut schlafen kann, sodass ich mich tagsüber nicht hinlege. Aber die aktuelle Situation bleibt ein täglicher Kampf. Es war natürlich schon vor Corona eine Challenge, es ist jetzt eine und wird auch nachher eine sein.»

«An depressive Menschen denkt einfach wieder niemand»

BLICK-Leserin Fabienne Meier* (43) leidet an einer Posttraumatischen Belastungsstörung.
Foto: Karin A. Wenger

BLICK-Leserin Fabienne Meier* (43) leidet an einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Sie hat manchmal Panikattacken und eine Depression.

«Als der Chef uns Mitte März mitteilte, dass wir im Homeoffice arbeiten sollten, blieb ich länger als sonst im Büro. Zuhause wurde es mir schwindlig, das Herz schlug schneller und ich merkte, dass ich eine Panikattacke hatte. Früher konnte ich dann jeweils meine Gedanken nicht mehr kontrollieren und ich meinte, ich müsse sterben. Mittlerweile habe ich die Panikattacken recht gut im Griff und ich schaffe es, mich zu beruhigen. Die Vorstellung, dass ich gar nicht mehr raus darf, auch nicht ins Büro, ist für mich eine Katastrophe. Ich würde es nicht mehr aus dem Bett schaffen.»

Fabienne Meier kann trotzdem weiterhin ins Geschäft. Jemand von der Administration muss jeden Tag dort sein wegen der Post. Normalerweise arbeitet sie drei Tage pro Woche, nun fährt sie jeden Morgen für einen halben Tag ins Büro.

«Als in der Schweiz das öffentliche Leben stillgelegt wurde, dachte ich mir: An depressive Menschen denkt einfach wieder niemand! Es wurde kaum thematisiert, das regt mich auf. Viele halten Depressionen immer noch für keine richtige Krankheit oder es heisst, man sei selbst Schuld. In der Leistungsgesellschaft darf man sich nicht entblössen und sagen, man sei krank. Ich trage eine dicke Maske und zeige meine richtigen Gefühle nur engen Freunden.»

Meier hatte vermutlich im Gymnasium das erste Mal eine Depression. Sie kann nicht mehr lernen, ihre Noten werden schlecht. Die Eltern sagen ihr, sie sei faul. Sie entscheidet sich nach der Matur für eine KV-Lehre, blüht auf. Dann der erste langjährige Freund, ein Narzisst, der sie von ihm abhängig macht. Nach der Trennung empfindet sie alles Unbekannte als gefährlich. Sie entwickelt eine Angststörung, dazu wieder eine Depression. Ihr Psychiater diagnostiziert später eine posttraumatische Belastungsstörung.

«Wir haben sehr viel zusammen erlebt, aber ich bin viel zu kurz gekommen. Ich habe nie gelernt, für mich selber zu schauen. Schon als Kind kümmerte ich mich immer nur um die anderen. Nach der Trennung sah ich keinen Sinn mehr im Leben, ich konsumierte Drogen. Heute weiss ich, dass ich mir selber einen Lebenssinn geben muss. Aber das ist schwierig, wenn man es nie gelernt hat.»

Seit 13 Jahren arbeitet Fabienne Meiner nun in ihrem Büro. Es ist ein Auf und Ab. Meistens verstärkt sich ihre Depression in den Wintermonaten, im Sommer geht es ihr besser. Sie wohnt alleine mit ihren zwei Katzen und hat vor, sich einen Kindertraum zu erfüllen: Sie möchte Klavierspielen lernen.

«Zu sagen, es gehe mir gut, wäre übertrieben. Aber ich habe unter der Woche keine Mühe aufzustehen. Ich sehe momentan einen Sinn darin, weil jemand ins Büro muss wegen der Post. Schwierig ist es an den Wochenenden, ich kann ich mich manchmal zu nichts motivieren. Ich weiss, spazieren würde mir gut tun, auch weil ich vor ein paar Jahren einen Bandscheibenvorfall hatte. Aber ich schaffe es einfach nicht und bleibe in der Wohnung. Was mich erstaunt: Ich bin introvertiert und brauche viel Zeit für mich. Doch zurzeit merke ich, dass mir Kontakt mit anderen Menschen fehlt.»

*Namen der Redaktion bekannt

«Auf einmal tauchen Ängste auf, die vorher nie Thema waren»

Fulvia Rota (63) ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Sie betreibt eine eigene Praxis in Zürich. Dort empfängt sie nur noch wenige Patienten. Mit den meisten macht sie zurzeit Video-Sitzungen oder sie telefoniert mit ihnen.

BLICK: Frau Rota, wie geht es psychisch erkrankten Menschen in Zeiten von Corona?
Fulvia Rota: Das kann ich nicht pauschal beantworten. Die Patienten haben verschiedene Diagnosen und reagieren dementsprechend auch unterschiedlich. Das ist aber auch bei Menschen so, die bisher gesund waren. Die einen reagieren erstaunlich ruhig, die andern hingegen zeigen massive Reaktionen.

Können Sie uns von einem Patienten erzählen, der zurzeit Mühe hat?
Ein Patient von mir arbeitet in einer Führungsposition in einer grossen Firma. Er ist nach einem Burnout in Behandlung. Für ihn ist es ganz schwierig, dass er nicht ins Geschäft kann. Als Macher-Typ ist er gewohnt, alles zu bestimmen und unter Kontrolle zu haben. Die viele Arbeit, ständige Dates oder das Fitnesscenter lenkten ihn von seinen inneren Problemen ab. Sich mit sich selbst zu beschäftigen und alleine zu sein, fällt ihm schwer. Plötzlich tauchen nun Ängste auf, die vorher nie Thema waren.

Ich kann mir vorstellen, dass es vielen so geht.
Wenn die Menschen den ganzen Tag zuhause sind, kommt es zu vermehrten Spannungen. Man fühlt einen inneren Druck, den man nur schlecht oder gar nicht aushält. So entwickeln einige Leute plötzlich Zwänge, etwa einen Putz- oder Ordnungszwang. Das kann eine Möglichkeit sein, Spannungen abzubauen. Dahinter versteckt sich teilweise eine unbewusste Angst, dass alles rund herum zusammenbricht. Wenn diese Personen bei sich im Kleinen jedes Detail kontrollieren können, gibt das ihnen Sicherheit.

Haben Sie auch Patienten, denen es zurzeit besser geht?
Ja, zum Beispiel eine 32-jährige Frau. Sie konnte wegen ihrer wiederholt auftretenden Depressionen das Studium erst letztes Jahr abschliessen und findet einfach keine Stelle. Ihr geht es nun deutlich besser. Zurzeit kritisiert niemand aus ihrer Familie, dass sie immer noch keine Stelle hat, oder dass sie keine Bewerbungsgespräche führt. Wegen der Pandemie fallen die Erwartungen an sich selbst und auch der Druck der anderen weg. Für sie ist es eine riesige Erleichterung und Entlastung.

Was raten Sie Menschen, die mit der aktuellen Situation nicht zurechtkommen?
Es ist wichtig, eine Routine beizubehalten. Sitzen Sie nicht den ganzen Tag im Pyjama herum. Ziehen sie sich am Morgen an, rasieren oder schminken Sie sich. Es gibt einem doch automatisch ein besseres Gefühl, wenn man sich im Spiegel sieht. Hilfreich kann es auch sein, vor der Arbeit eine Runde im Quartier zu drehen. Und eine räumliche Trennung ist sinnvoll: Essen und arbeiten Sie wenn möglich nicht am selben Tisch. Ich kann wirklich nicht genug darauf hinweisen, wie wichtig es ist, eine Tagesstruktur zu haben. Das gilt eigentlich für alle Menschen. Wenn es aber trotz allem nicht geht, so nehmen Sie unbedingt Hilfe in Anspruch. (wnk)

Fulvia Rota (63) ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Sie betreibt eine eigene Praxis in Zürich. Dort empfängt sie nur noch wenige Patienten. Mit den meisten macht sie zurzeit Video-Sitzungen oder sie telefoniert mit ihnen.

BLICK: Frau Rota, wie geht es psychisch erkrankten Menschen in Zeiten von Corona?
Fulvia Rota: Das kann ich nicht pauschal beantworten. Die Patienten haben verschiedene Diagnosen und reagieren dementsprechend auch unterschiedlich. Das ist aber auch bei Menschen so, die bisher gesund waren. Die einen reagieren erstaunlich ruhig, die andern hingegen zeigen massive Reaktionen.

Können Sie uns von einem Patienten erzählen, der zurzeit Mühe hat?
Ein Patient von mir arbeitet in einer Führungsposition in einer grossen Firma. Er ist nach einem Burnout in Behandlung. Für ihn ist es ganz schwierig, dass er nicht ins Geschäft kann. Als Macher-Typ ist er gewohnt, alles zu bestimmen und unter Kontrolle zu haben. Die viele Arbeit, ständige Dates oder das Fitnesscenter lenkten ihn von seinen inneren Problemen ab. Sich mit sich selbst zu beschäftigen und alleine zu sein, fällt ihm schwer. Plötzlich tauchen nun Ängste auf, die vorher nie Thema waren.

Ich kann mir vorstellen, dass es vielen so geht.
Wenn die Menschen den ganzen Tag zuhause sind, kommt es zu vermehrten Spannungen. Man fühlt einen inneren Druck, den man nur schlecht oder gar nicht aushält. So entwickeln einige Leute plötzlich Zwänge, etwa einen Putz- oder Ordnungszwang. Das kann eine Möglichkeit sein, Spannungen abzubauen. Dahinter versteckt sich teilweise eine unbewusste Angst, dass alles rund herum zusammenbricht. Wenn diese Personen bei sich im Kleinen jedes Detail kontrollieren können, gibt das ihnen Sicherheit.

Haben Sie auch Patienten, denen es zurzeit besser geht?
Ja, zum Beispiel eine 32-jährige Frau. Sie konnte wegen ihrer wiederholt auftretenden Depressionen das Studium erst letztes Jahr abschliessen und findet einfach keine Stelle. Ihr geht es nun deutlich besser. Zurzeit kritisiert niemand aus ihrer Familie, dass sie immer noch keine Stelle hat, oder dass sie keine Bewerbungsgespräche führt. Wegen der Pandemie fallen die Erwartungen an sich selbst und auch der Druck der anderen weg. Für sie ist es eine riesige Erleichterung und Entlastung.

Was raten Sie Menschen, die mit der aktuellen Situation nicht zurechtkommen?
Es ist wichtig, eine Routine beizubehalten. Sitzen Sie nicht den ganzen Tag im Pyjama herum. Ziehen sie sich am Morgen an, rasieren oder schminken Sie sich. Es gibt einem doch automatisch ein besseres Gefühl, wenn man sich im Spiegel sieht. Hilfreich kann es auch sein, vor der Arbeit eine Runde im Quartier zu drehen. Und eine räumliche Trennung ist sinnvoll: Essen und arbeiten Sie wenn möglich nicht am selben Tisch. Ich kann wirklich nicht genug darauf hinweisen, wie wichtig es ist, eine Tagesstruktur zu haben. Das gilt eigentlich für alle Menschen. Wenn es aber trotz allem nicht geht, so nehmen Sie unbedingt Hilfe in Anspruch. (wnk)

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Diese Stellen sind rund um die Uhr für Menschen in Krisen und für ihr Umfeld da:

Adressen für Menschen, die jemanden durch Suizid verloren haben

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