Seit acht Jahren zu Hause – wegen Angststörung
Wenn die Welt an der Türschwelle aufhört

Was vielen während des Lockdowns Mühe machte, ist für BLICK-Leserin Nicole Huber aus der Region Bern Alltag. Seit 2012 verlässt sie ihre Wohnung kaum noch. Ein Einblick in ein Leben mit einer psychischen Krankheit, über die Betroffene fast nie öffentlich erzählen.
Publiziert: 16.04.2020 um 14:31 Uhr
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Aktualisiert: 03.12.2020 um 16:47 Uhr
Karin A. Wenger

Dieser Text erschien erstmals im April 2020. Im Rahmen der Aktionswoche zu mentaler Gesundheit publizieren wir ihn erneut.

Am Sonntag, 15. März sagte sich Nicole Huber (45): «Heute gehe ich raus.» In den Medien stand, der Bundesrat berate sich, vielleicht werde am Montag eine landesweite Ausgangssperre verhängt. Ihre Schuhe musste sie zuerst suchen, sie hat seit acht Jahren keine mehr getragen. Im Schrank fand sie verstaubte Sneakers.

Seit 2012 bleibt Nicole Huber in ihrer Wohnung. Fünfeinhalb Zimmer auf zwei Stockwerken, ein Balkon, 102 Quadratmeter. «Eigentlich zu gross für drei Personen», sagt sie. Manchmal holt sie die Post im Briefkasten vor dem Mehrfamilienhaus. An guten Tagen schafft sie es zur Mülltonne auf der anderen Seite der Quartierstrasse. Das ist ihr Radius.

Die Welt von Nicole Huber hört an der Türschwelle auf.
Foto: Philippe Rossier
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Ein paar Schritte weiter beginnt ihr Herz zu rasen, ihr wird schwindlig, die Beine werden taub. Früher dachte sie, es sei ein Herzinfarkt. «Mein Kopf weiss mittlerweile, dass es nur eine Panikattacke ist. Aber ich schaffe es nicht, den Körper zu kontrollieren.»

Furcht als ständiger Begleiter

Etwa jede siebte Person in Europa leidet an einer Angststörung. Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer. Die Ängste sind unterschiedlich: Manche Betroffene leiden an Panikattacken, einige an spezifischen Phobien, zum Beispiel vor Spinnen oder Höhen. Für Personen mit einer generalisierten Angststörung ist Furcht ein ständiger Begleiter. Und Menschen wie Nicole Huber leiden an Agoraphobie.

Diese Krankheit beschreibt der deutsche Psychiater Carl Westphal 1871 zum ersten Mal. Einige seiner Patienten fürchteten sich vor grossen Plätzen. Er ersann den Namen Agoraphobie – «agora» bedeutet auf Altgriechisch Versammlungs- oder Marktplatz. Über eine Erklärung für die Angst seiner Patienten rätselte Westphal damals vergeblich.

«Zuerst dachte ich, ich bin irre»

Die Welt von Nicole Huber wurde vor acht Jahren immer kleiner. Sie litt schon zuvor jahrelang an Panikattacken. Doch früher beruhigte es sie, draussen spazieren zu gehen. Im Sommer 2012 begann ihr Körper zu rebellieren, sobald sie nach draussen ging. Sie beschreibt, es fühle sich an wie der Moment, wenn man auf einer Achterbahn in die Tiefe stürze. Die Angst rauszugehen wurde grösser, ihr Radius kleiner. Im ersten Jahr konnte sie nicht einmal alleine zu Hause sein. «Zuerst dachte ich, ich bin irre, paranoid oder schizophren. Ich sagte mir ständig: Reiss dich zusammen, das ist nicht normal.»

Mehrere Therapien brachten nur kleine Fortschritte. Nicole Huber lernte, sich zu Hause zu beschäftigen. «Was andere wegen Corona erleben, kenne ich seit acht Jahren», sagt sie und lächelt. Sie liest viele Bücher, bloss keine Liebesromane, oder spielt Playstation. Wenn sie merkt, dass eine Panikattacke kommt, löst sie Kreuzworträtsel und Quizfragen. Das lenkt sie ab. Vor einigen Monaten schraubte sie ihren Computer auseinander, ersetzte die kaputte Grafikkarte, baute eine neue Festplatte ein. Ein Kollege erklärte ihr am Telefon, worauf sie achten soll, dann schräubelte die gelernte Coiffeuse los. Apropos Haare – diese schneidet ihr die Hauswartin, ebenfalls Friseurin.

Nicole Huber musste sich überwinden, die BLICK-Reporterin und den Fotografen zu Hause zu empfangen. Sie hatte zu Beginn der Pandemie Bedenken. Doch sie hat genug davon, dass die Angst ihr Leben bestimme. Mittlerweile macht sie sich weniger Sorgen wegen des Virus.
Foto: Philippe Rossier

Agoraphobie kann unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Betroffene fürchten sich zum Beispiel vor Strassen, Läden, Tunnel oder vor dem Liftfahren. Einige haben Angst davor, ins Freie zu gehen oder allein zu Hause zu sein. Die Angstzustände können in vielen Kombinationen auftreten. Nur bei schweren Ausprägungen gehen Betroffene nicht mehr aus der Wohnung.

Nicole Huber ist kein Einzelfall. Sie ist auf Facebook Mitglied in mehreren Gruppen für Agoraphobie. Dort hat sie Menschen mit ähnlichen Schicksalen kennengelernt. Einige zählt sie heute zu ihren Freunden. Durch ihre Krankheit hat Huber viele alte Kontakte verloren. «Viele können es nicht nachvollziehen, doch das erwarte ich gar nicht. Ich wünsche mir bloss, akzeptiert zu werden.» Huber spricht bewusst öffentlich über ihre psychische Erkrankung, um das Tabu zu brechen.

«Ich schaffe das irgendwann»

Huber will sich nicht mehr von ihren Ängsten bestimmen lassen. Vergangenen November stirbt ihr Vater, sie kann nicht an seine Beerdigung. Das gibt ihr neuen Willen: Seit Januar telefoniert sie wöchentlich mit einem Psychiater. Sie hat das Gefühl, dass die Therapie hilft. Dann kommt Corona. Als sie am 15. März hört, dass der Bundesrat eine Ausgangssperre verhängen könnte, schnürt sie ihre Schuhe. «Ich glaube, das war eine Trotzreaktion.» Sie geht mit ihrer Tochter eine Viertelstunde spazieren. Nicht weit, aber weiter als die Mülltonnen. «Ich fühlte mich wie ein kleines Kind. Es war wunderschön und ich war wahnsinnig stolz», sagt Huber. Es ist das einzige Mal während des Gesprächs, dass ihre Augen strahlen.

Huber will, dass die Welt vor der Türschwelle wieder grösser wird. «Ich schaffe das irgendwann», sagt sie.
Foto: Philippe Rossier

Danach kam wieder die Angst. Huber hat zuerst Panik davor, sich mit dem Coronavirus zu infizieren und zum Arzt oder in ein Spital zu müssen. Allmählich wird sie ruhiger. Sie liest nur noch wenig Nachrichten, spricht seltener über die Pandemie mit ihrer Familie. Mit ihrem Mann ist sie seit 21 Jahren verheiratet. Ihm und ihrer Tochter sei sie wahnsinnig dankbar. «Sie sind meinetwegen sehr eingeschränkt. Ich sage ihnen immer, sie sollen ihr Leben leben und nicht auf mich schauen.» Ferien seien sowieso kein Thema, dafür fehle das Geld. Huber erhält keine IV.

Früher, als junge Frau, war Nicole Huber unternehmungslustig. Sie schaute in Eishallen Spiele des SC Bern, ging an Wochenenden weg und lief an Zweitagesmärschen mit. «Ich will endlich wieder raus», sagt Huber mehrmals. Sie will wieder mit ihrer Familie auswärts essen können und durch die Altstadt von Bern flanieren. «Ich schaffe das irgendwann. Ich lernte zuerst, alleine zu Hause zu sein. Dann zum Briefkasten, zu den Mülltonnen und jetzt sogar noch weiter zu gehen. Ich mache Fortschritte.» Huber will, dass die Welt vor der Türschwelle wieder grösser wird.

Damit es uns allen besser geht

Viele Menschen in der Schweiz leiden auch seelisch unter den Auswirkungen der Corona-Krise. Deshalb initiiert das Bundesamt für Gesundheit (BAG) den Aktionstag «Darüber reden. Hilfe finden». Er findet am 10. Dezember 2020 statt.

Die Hilfsorganisationen Pro Mente Sana, Dargebotene Hand, Pro Juventute, Pro Senectute, Caritas und das Schweizerische Rote Kreuz widmen sich gemeinsam mit vielen weiteren Akteuren den verschiedensten Aspekten des Themas psychische Gesundheit. Menschen in schwierigen Situationen sollen so Solidarität erfahren und über konkrete Hilfsangebote informiert werden. Der Tag sensibilisiert auch die Gesamtbevölkerung dafür, im Umfeld aufmerksam zu sein und Hilfe zu leisten.

BLICK macht dieses wichtige Thema zum Schwerpunkt und berichtet vor, während und nach dem Aktionstag ausführlich darüber.

Weitere Informationen unter https://bag-coronavirus.ch/hilfe/

Viele Menschen in der Schweiz leiden auch seelisch unter den Auswirkungen der Corona-Krise. Deshalb initiiert das Bundesamt für Gesundheit (BAG) den Aktionstag «Darüber reden. Hilfe finden». Er findet am 10. Dezember 2020 statt.

Die Hilfsorganisationen Pro Mente Sana, Dargebotene Hand, Pro Juventute, Pro Senectute, Caritas und das Schweizerische Rote Kreuz widmen sich gemeinsam mit vielen weiteren Akteuren den verschiedensten Aspekten des Themas psychische Gesundheit. Menschen in schwierigen Situationen sollen so Solidarität erfahren und über konkrete Hilfsangebote informiert werden. Der Tag sensibilisiert auch die Gesamtbevölkerung dafür, im Umfeld aufmerksam zu sein und Hilfe zu leisten.

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