Erstes energieautarkes Haus der Welt
Wie lebt es sich im Heim der Zukunft?

Ihr Leben hat Modellcharakter: Vor vier Monaten zog Familie Vogt in Brütten ZH in das erste energieautarke Haus der Welt. Muss sie Abstriche hinnehmen? Eine Zwischenbilanz.
Publiziert: 07.11.2016 um 15:36 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2018 um 09:35 Uhr
Christina Gubler

Bei Vogts geht es an diesem Sonntagmorgen drunter und drüber. Kein Wunder: Am Vortag hatten sie Freunde samt Nachwuchs zum Brunch eingeladen, am Abend kam nochmals kinderreicher Besuch – zum Raclette. Nun sammelt Corinne Vogt (36) das Spielzeug ein, das ihre Kleinen, Lynn (5) und Wyatt (18 Monate), mit den Gschpänli im Wohnzimmer verstreut hatten. Ehemann Martin (40) befreit den Tisch derweil von den letzten Brösmeli und sagt schmunzelnd: «Gestern haben wir etwas über die Stränge gehauen.»

Meint er damit zwei, drei Gläser zu viel? Nein. Er zielt auf den Energieverbrauch der Familie. Martin Vogt führt uns hinaus in den Flur. In eine der Wände ist ein Tablet eingelassen. Es zeigt ein Diagramm mit Balken: Alle sind grün, der zweitletzte aber reisst nach oben aus und ist am Ende tiefrot. Der Racletteabend.

Das Tablett zeigt die Wahrheit. Martin Vogt und Wyatt kontrollieren ihren Energieverbrauch.
Foto: Valeriano Di Domenico
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Corinne und Martin Vogt mit Tochter Lynn und Sohn Wyatt vor ihrem neuen Zuhause.
Foto: Valeriano Di Domenico

Pionier-Projekt läuft seit Juni in Brütten ZH

Der kritische Blick auf den Energieverbrauch gehört bei Vogts zum Alltag. Seit Juni leben sie im Zürcher Dorf Brütten bei Winterthur in einem Mehrfamilienhaus, das ein energieeffizientes Leben vorwegnimmt. Es ist weltweit das erste energieautarke Haus (siehe Box unten). Es deckt also den Energieverbrauch der Bewohner selber ab und bezieht keinen Strom aus dem Netz.
Der Pionierbau geniesst denn auch von Politik, Medien und Bauwirtschaft grosse Aufmerksamkeit und Anerkennung. Unlängst wurde dem Gebäude im Rahmen des Schweizer Solarpreises 2016 sogar der prestigeträchtige Norman-Forster-Solar-Award für Plus-Energiebauten verliehen.

Die Bewohner brauchen nur halb so viel Strom

Im Auge behalten heisst freilich nicht verzichten. «Wir leben hier ganz normal», sagt Martin Vogt, der mit seinen Lieben in einem Casting von einer Fachjury den Zuschlag für eine der Mietwohnungen erhalten hatte. Seit gut vier Monaten leben sie in der 4½-Zimmer-Parterrewohnung. Schon vor dem Bezug war klar, dass die Familie im neuen Zuhause keine Sparzwänge hinnehmen muss – aber freiwillig bereit ist, nicht unnötig Strom und Warmwasser zu verbrauchen.

Das Tablet im Flur dient ihr als Motivationshilfe: Es zeigt jeden Tag an, ob sie über oder unter dem vorgesehenen Budget liegen. Reizen es die Bewohner des Hauses übers Jahr nicht aus, werden sie mit barer Münze belohnt. Im umgekehrten Fall zahlen sie drauf. Auf Strom- oder Wärmezufuhr müssen sie aber nie verzichten. 2200 Kilowattstunden stehen jeder Partei im Schnitt zur Verfügung.

Die Energiemengen variieren je nach Grösse der Wohnungen. Das ist wenig, typische Schweizer Haushaltungen verbrauchen das Doppelte. Offensichtlich ist es aber genug. An der Mieterversammlung, sagt Martin Vogt, habe sich gezeigt, dass keiner der Bewohner sein Energiebudget voll ausgeschöpft hat. Der Schnitt liegt unter 75 Prozent. «Wir verbrauchten sogar nur knapp 50 Prozent.»

Kaum Einschränkungen zu spüren

Auch jetzt, wo die Uhr bereits die Winterzeit anzeigt und die Heizung zugeschaltet ist, bewegen sich die Tageswerte zwischen 40 und 60 Prozent. Die beiden «Partys» der Vogts – inklusive Käseschmelzen mit dem stromfressenden Tisch­öfeli – werden somit locker kompensiert. Genauso, wenn nach den Ferien fünf Trommeln Wäsche aufs Mal anfallen und Corinne Vogt die Maschine für einmal nicht im Eco-Programm laufen lässt. «Das benötigt drei Stunden, damit käme ich nicht durch», sagt die Teilzeitangestellte Eventmanagerin.

In der Dusche zeigt ein Gerät Wassertemperatur und -verbrauch an.
Foto: Valeriano Di Domenico

Gibt es wirklich keine Einschränkungen? «Nein, zumindest empfinden wir das nicht so», sagt Martin Vogt. Der Wasserstrahl in der Dusche – sie ist mit Wärmerückgewinnung, Temperatur- und Verbrauchsanzeige sowie Sparbrause ausgerüstet – empfand er anfangs zwar als etwas dünn. «Ich gewöhnte mich aber erstaunlich rasch daran.» An frostigen Tagen gönnt sich der in der Blechverarbeitung tätige Hausherr allerdings etwas heisseres Wasser.

Der Gussboden speichert die Wärme des Sonnenlichts

Selbst der anthrazitfarbene Gussboden – er nimmt die Wärme von einfallendem Sonnenlicht auf und sollte daher nicht mit Teppichen belegt werden – geht Martin Vogt nicht mehr gegen den Strich. Töchterchen Lynn hüpft barfuss darauf herum. Sie wird von ihrer Mutter aber alsbald angehalten, Socken anzuziehen. Denn die Bodenheizung basiert auf Wärmepumpen – und hat somit eine Vorlauftemperatur, die unter jener des Körpers liegt. «Manche Gäste empfinden den Boden denn auch als kalt», sagt die Mutter. «Wir aber nicht – mit Socken ist es kein Problem. Im Winter laufen wir ohnehin nicht mit nackten Füssen herum.» Die vorgegebene Raumtemperatur von 21 Grad sei sehr komfortabel.

Nichts verschwenden: Aus den Küchenabfällen der Familie Vogt entsteht Biogas.
Foto: Valeriano Di Domenico

Die Küchenabfälle bringen das Auto im Keller in Fahrt

Seit ihrem Zuzug ins energieautarke Haus haben Vogts sogar einen Zweitwagen. Natürlich keinen eigenen. In der Garage stehen ein Elektro- und ein Biogasauto, beide können die Bewohner nutzen. Die Reservation und Abrechnung läuft über das Carsharing-Unternehmen Mobility. Gerade Corinne Vogt ist froh um dieses Angebot: Die Busverbindungen in Brütten sind vergleichsweise rar, die Wege mitunter lang. Meist benutzt sie das Gasauto – für dieses steuert sie denn auch fleissig Treibstoff bei. Sie sammelt Rüst- und Küchenabfälle in einem Container vor der Haustüre. Den transportiert die Gemeinde ab und verarbeitet ihn in einer Kompogasanlage zu Biogas.

Was das Leben auch erleichtern soll, ist die Steuerung des Lichts und der Storen über das eingebaute Tablet und die Smartphones. Manchmal aber lässt sich das Leben nicht vorplanen. Was also, wenn sich Martin draussen auf dem Gartensitzplatz eine Zigarette gönnen will, die Storen nach Sonnenuntergang aber bereits automatisch heruntergegangen sind? Dann kann er den Rollladen der Tür per Fingerdruck auf dem Handydisplay öffnen.

«Auch auf unsere Bedürfnisse zugeschnittene Beleuchtungsszenarien lassen sich vorprogrammieren», sagt Corinne Vogt, «dafür brauchen wir aber zuerst noch eine genaue Einführung des Herstellers.» Der wird bald auf die Familie zukommen. Und mit ihm der Kälteeinbruch. Müssen sich die Vogts davor fürchten? «Es läuft wie geplant, die Energiespeicher sind voll», erklärt Roger Balmer, Herr über die Haustechnik. Dann fügt er lachend an: «Spannend wird es, sollte der Winter diesmal aussergewöhnlich lang und eisig werden. Dann müssen die Bewohner vielleicht etwas mehr Rohkost essen und warme Pullis anziehen.»

In Zusammenarbeit mit Umweltarena Spreitenbach

Wohnen der Zukunft

Das SonntagsBlick-Magazin begleitet Familie Vogt in ein Pionierprojekt. Das Quartett ist im Juni 2016 nach Brütten ZH gezogen. Dort lebt es jetzt im weltweit ersten Mehrfamilienhaus, das sich vollständig mit Power aus eigener Produktion versorgt.

Das Haus wurde von der Umwelt-Arena Spreitenbach und deren Gründer, Bauunternehmer und Ökopionier Walter Schmid, konzipiert und gebaut. Das Gebäude ist mit Photovoltaikmodulen ummmantelt, die liefern den Strom. Einerseits für die Haushaltgeräte, Beleuchtung und Steckdosen in den neun mit zeitgemässem Komfort ausgestatteten Mietwohnungen. Andererseits für die Wärmepumpen, die warmes Wasser für den Hausgebrauch sowie an kalten Tage auch für die Heizung bereitstellen.

Stromüberschüsse werden in Batterien für den kurz- und mittelfristigen Gebrauch gespeichert und als Winterreserve in Wasserstoff umgewandelt. Dieser wird in unterirdische Tanks komprimiert. Dank der minutiös durchdachten Haustechnik, optimaler Isolation und Haushaltgrossgeräten der besten Effizienzklasse ist die Immobilie energieautark. Die Bewohner werden allerdings auch motiviert, ein vorgegebenes Energiebudget einzuhalten.

Das SonntagsBlick-Magazin begleitet Familie Vogt in ein Pionierprojekt. Das Quartett ist im Juni 2016 nach Brütten ZH gezogen. Dort lebt es jetzt im weltweit ersten Mehrfamilienhaus, das sich vollständig mit Power aus eigener Produktion versorgt.

Das Haus wurde von der Umwelt-Arena Spreitenbach und deren Gründer, Bauunternehmer und Ökopionier Walter Schmid, konzipiert und gebaut. Das Gebäude ist mit Photovoltaikmodulen ummmantelt, die liefern den Strom. Einerseits für die Haushaltgeräte, Beleuchtung und Steckdosen in den neun mit zeitgemässem Komfort ausgestatteten Mietwohnungen. Andererseits für die Wärmepumpen, die warmes Wasser für den Hausgebrauch sowie an kalten Tage auch für die Heizung bereitstellen.

Stromüberschüsse werden in Batterien für den kurz- und mittelfristigen Gebrauch gespeichert und als Winterreserve in Wasserstoff umgewandelt. Dieser wird in unterirdische Tanks komprimiert. Dank der minutiös durchdachten Haustechnik, optimaler Isolation und Haushaltgrossgeräten der besten Effizienzklasse ist die Immobilie energieautark. Die Bewohner werden allerdings auch motiviert, ein vorgegebenes Energiebudget einzuhalten.

Mehr
Was die Familie gelernt hat
  • «Bei Sonnenschein produziert die Photovoltaikanlage am meisten Strom. Deshalb haben wir uns angewöhnt, Waschmaschine und Geschirrspüler möglichst tagsüber laufen zu lassen. Und nur, wenn sie voll gefüllt sind»
     
  • «LED-Lampen sind nicht alle gleich sparsam. Deshalb achten wir auf die Energieetikette. Der grüne Balken mit A++ ist bei Leuchtmitteln und Leuchten Bestklasse»
     
  • «In der Dusche das Wasser abzudrehen, während man sich einseift, wird rasch selbstverständlich. Wir achten inzwischen auch darauf, wenn wir auswärts in den Ferien sind»
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