ETH-Professor David Gugerli weiss alles über die Geschichte des Computers
«Bei Facebook ist schleierhaft, wer wen überwacht»

ETH-Professor David Gugerli (56) weiss alles über die Geschichte des Computers. Er erklärt, wodurch sich der erste Computer vom Smartphone und der Fichenskandal vom Datenklau im Internet unterscheidet.
Publiziert: 16.04.2018 um 13:03 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 15:10 Uhr
1951: Der Univac (steht für: Universal Automatic Computer) war der erste in den USA hergestellte kommerzielle Computer. Die TV-Station CBS benutzte ihn, um (richtige) Vorhersagen zur US-Präsidentschaftswahl 1952 machen zu können.
Foto: Bettmann Archive
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Daniel Arnet

SonntagsBLICK: David Gugerli, hat uns die Technik ­verschluckt?
David Gugerli:
Nein, es ist umgekehrt: Wir haben uns in ihr breitgemacht.

Ihr neues Buch heisst «Wie die Welt in den Computer kam». Das klingt so, als würden wir heute in einem Rechner leben.
Oder in vielen. Menschen haben im Laufe der Jahrzehnte alles, was ihnen wichtig war oder Mühe bereitete, in Computer verlegt. Ich erzähle die Geschichte dieser grossen Zügelaktion.

War das ein freiwilliger Umzug in den Computer?
Menschen versprechen sich von Technologien einen Vorteil und setzen sie ein, um die eigene Position zu verbessern. Das ist beim Auto, bei der Küchenmaschine oder beim Computer nicht grundsätzlich ­anders.

Unter Strom

David Gugerli, 1961 in Zürich geboren, studiert an der Universität Zürich Allgemeine Geschichte, Geschichte der neueren deutschen Literatur und Literaturkritik. 1995 schreibt er seine Habilitationsschrift über die Elektrifizierung der Schweiz. Seit nunmehr 20 Jahren ist Gugerli Professor für Technikgeschichte an der ETH Zürich. 2015 ist er Mitherausgeber von Max Frischs Buch ­«Ignoranz als Staatsschutz?», worin der Schweizer Schriftsteller den Fichenskandal von 1989 ­aufgearbeitet hat. Aktuell ­beschäftigt sich Gugerli mit der Entstehung digitaler Gesellschaften und der Frage, wie die Welt in den Computer kam.

David Gugerli, 1961 in Zürich geboren, studiert an der Universität Zürich Allgemeine Geschichte, Geschichte der neueren deutschen Literatur und Literaturkritik. 1995 schreibt er seine Habilitationsschrift über die Elektrifizierung der Schweiz. Seit nunmehr 20 Jahren ist Gugerli Professor für Technikgeschichte an der ETH Zürich. 2015 ist er Mitherausgeber von Max Frischs Buch ­«Ignoranz als Staatsschutz?», worin der Schweizer Schriftsteller den Fichenskandal von 1989 ­aufgearbeitet hat. Aktuell ­beschäftigt sich Gugerli mit der Entstehung digitaler Gesellschaften und der Frage, wie die Welt in den Computer kam.

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Doch viele sehen in Technologien eine reale Gefahr – so warnte der kürzlich verstorbene Physiker Stephen Hawking davor, dass Roboter uns Menschen dereinst ersetzen könnten.
Jede Technik, jede Gesellschaft denkt den Weltuntergang mit. Ob den Menschen immer eine Verbesserung durch Technologie gelingt, ist ungewiss. Es kann auch schiefgehen.

Wie sorgt man dafür, dass ­Computer nur zum Wohl der Menschen eingesetzt werden?
Der Computer dient dem Menschen – man weiss nur nicht welchem. Meine Computergeschichte berücksichtigt diese verschiedenen Interessen.

Welche Instanz entscheidet ­jeweils, wohin es gehen soll?
Ich glaube nicht, dass das jemand bestimmen könnte. Mit welcher ­Begründung?

Gibt es keinen Meister? Dann sind wir der Technik mit ­ihrem Eigenleben ausgeliefert wie Goethes Zauberlehrling: «Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.»
Sobald man Technologien einsetzt, stellt sich die Erfahrung ein, dass sich diese verselbständigen.

Auch beim Computer?
Ja, seit etwa 20 Jahren diskutiert man verstärkt darüber, ob Computer autonom werden.

Mit welchen Erkenntnissen?
Dass der Computer eine Kontrolltechnologie mit starkem Eigen­leben ist. Nehmen Sie das Online-Banking – seit gut 40 Jahren gibt es dieses Angebot. Der Kunde kann dort seine Einkünfte und Ausgaben kontrollieren. Aber auch die Bank kann dadurch den Kunden kontrollieren und schauen, was er auf dem Konto hat.

Big brother is watching you?
Nein, es ist eben nicht der böse Mann ganz weit oben, der alles steuert und reguliert. Vielmehr sind es vielfältige und höchst legitime Bedürfnisse nach Kontrolle, die man mit dem Computer um­setzen kann. Es ist vernünftig, dass eine Bank den Überblick hat bei dem, was sie treibt. Und es ist vernünftig, dass Sie als Kunde den Überblick haben, was die Bank mit Ihrem Geld macht.

Wie funktionierte die ­gesellschaftliche Normierung vor der Digitalisierung
Denken Sie an Charlie Chaplins «Modern Times»: Da führte der ­industrielle Arbeitsprozess zu einer Normierung des Arbeiters. Und ­Uhren an Kirchen, Rathäusern und Bahnhofsgebäuden haben die Tagesstruktur der Bevölkerung getaktet. Im Kindergarten gabs dafür ein Lied: «S elfi Glöggli lüütet scho, jetzt isch Ziit zum hei go.» Dem kann man sich nicht entziehen.

Und wie war das vor der Industrialisierung, vor der Einsetzung von technischen Hilfsmitteln?
Man ging in die Kirche, arbeitete nach den Regeln der Zünfte, hielt sich an Kleidervorschriften und kannte die Steuergesetze – schon damals gab es Regeln, von der Taufe bis zur Beerdigung. Vorindustrielle Gesellschaften waren alles andere als normenfrei. Ob es mehr oder weniger Regeln gab, weiss ich nicht, aber heute gehen sie stärker von der Technik aus als von einer moralischen Instanz wie der Kirche.

Die Kirche normierte die Gesellschaft mittels Angsteinflössung, indem man den Menschen sagte, was sie bei Strafe zu unterlassen haben ...
... das kann man durchaus so sehen.

David Gugerli steht neben der Prozessoreneinheit des Supercomputers Cray X-MP, den die ETH 1988 angeschafft hat. Das 5,5 Tonnen schwere und 15 Millionen Dollar teure Gerät galt ­damals als der schnellste Computer der Welt.
Foto: PHILIPPE ROSSIER

Kann man also sagen: Technik normiert Menschen ohne Angst?
Ja, wenn Sie schauen, welche ­Daten Nutzer dem Internet anvertrauen, welche AGB sie unterschreiben – dann haben die offenbar sehr wenig Angst. Sie handeln unbekümmert.

Wir geben heute freiwillig mehr persönliche Daten preis, als Spitzel des Bundes im 1989 aufgeflogenen Fichenskandal sammelten.
Wenn man den aktuellen Datenhandel bei Facebook betrachtet, ­bekommt man dieses Gefühl.

Sie sind Mitherausgeber von Max Frischs «Ignoranz als Staatsschutz?», worin er den Fichenskandal aufarbeitete. Ihr Kommentar zu Facebook?
Nichts Neues unter der Sonne – wir werden heute einfach mit anderen Mitteln überwacht.

Gibts auch Unterschiede?
Bei den Fichen ging es sehr stark um die Überwachung der Bürger durch den Staat. Und bei Facebook ist es schleierhaft, wer wen überwacht – ihre Freunde Sie, Sie Ihre Freunde, Ihr Arbeitgeber Sie, Facebook alle Firmen oder Firmen wie Cambridge Analytica Facebook?

Am Anfang Ihrer Computer­geschichte steht der Univac – der erste, 1951 in den USA herge­stellte kommerzielle Computer: 13 Tonnen schwer, 125 Kilowatt Stromverbrauch. Haben Sie diese Maschine je in Betrieb gesehen?
Nein, ich kenne den Univac nur aus einem Werbefilm und Publikationen dazu. Als man ihn vorstellte, sagte man, dass er unglaublich viel kann – vor allem unglaublich gut zählen und sortieren. Für einen Rechner war das etwas Neues.

Deshalb setzte man ihn für die US-Wahlen 1952 ein.
Genau. Und auch für Volkszählungen und andere Sortierarbeiten.

Heute ist jedes Smartphone dem Univac überlegen.
Meinen Sie? Diese Geräte haben doch nichts miteinander zu tun.

Weshalb?
Ein Smartphone ist mehr eine Schnittstelle – ein Eingabe-Aus­gabe-Gerät. Die grosse Rechen­leistung erledigen externe Server, gespeichert wird in der Cloud. Und 1952 wäre gar niemand auf die Idee gekommen, dass man mit dem Univac auch noch telefonieren oder fernsehen sollte.

Aus heutiger Sicht eine ­Fehleinschätzung.
In den 70er-Jahren sagten Hardware-Hersteller auch, dass niemand einen Computer zu Hause haben wolle. Das war keine fehlende Weitsicht, sondern vernünftiges Denken. Die dachten sich bloss: Eine Kiste, wie wir sie heute produzieren, will bestimmt niemand in den eigenen vier Wänden stehen haben – und damit hatten sie recht.

Die Mikroprozessoren Ende der 70er-Jahre machten kleinere Geräte möglich ...
... die man mutig als Computer ­bezeichnete. Eigentlich waren Mikro­prozessoren eine Beleidigung für einen Computer. Ein teures ­Gerät zum Basteln und Spielen.

Aber spielerische Ansätze haben die Entwicklung der Computer vorangebracht.
Diese spielerischen Aspekte nahmen sogar noch zu. Man kann das auch auf der kommerziellen Seite beobachten: Lange Zeit hatte das Militär bei der Entwicklung die Feder­führung, heute verarbeiten Rüstungsbetriebe die Abfälle aus der Gaming-Industrie.

Hat das Militär die Vormacht­stellung freiwillig aufgegeben?
Die gibt niemand freiwillig auf. Die Gaming-Industrie war einfach schneller, grösser und vielleicht auch schlauer. Und die Spieler ­habens bezahlt.

Wie zufällig ist der heutige ­Zustand der digitalen Welt?
Er ist weder geplant noch zufällig. Die Pläne gingen selten auf, und der Zufall konnte nützlich sein. ­Vieles mussten die Firmen aushandeln, es gab Brüche und Neuanfänge – zum Beispiel in der Frage, wie man auf Speicher zugreifen soll.

Meinen Sie mit Floppy Disks, Bändern, Harddisks oder ­Memorysticks?
Genau. Oder Datenbanken. Oder raffinierte Anwendungen und robuste Protokolle, lokale Lösungen und verteilte Systeme, sehr sichere oder gut zugängliche Software.

Würden wir heute an einem ­anderen Ort stehen, wenn ­Informatiker die Weichen manchmal anders gestellt hätten?
Selbstverständlich. In den 60er-Jahren hatte man zum Beispiel die Vorstellung, dass Rechenzentren wie städtische Elektrizitätswerke funktionieren könnten – statt Strom hätten sie Rechenleistung verteilt. Ein solches Projekt hat man am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston entworfen.

Weshalb hat man es verworfen?
Es war interessanter, viele verschiedene Rechner miteinander zu verbinden, statt alles an einem Ort zu bündeln.

Wir werden nie herausfinden, ob das MIT-Projekt nicht doch zukunftsträchtiger gewesen wäre.
Natürlich nicht. Zukunft wurde als Gedankenexperiment, als ­Entlastung eingesetzt, um in der Gegenwart handeln zu können – es gab ja auch genügend aktuelle ­Probleme zu lösen. Aber alle wissen: Die Zukunft wird mit grösster Wahrscheinlichkeit anders sein,als man sie sich heute vorstellt.

Mit welchen praktischen ­Konsequenzen?
Wenn man zum Beispiel in einem Programm festlegt, wie gross eine Tabelle sein kann. Und plötzlich wäre es gut, zehn- oder hundertmal grössere Tabellen zu haben.

Dann könnte man einfach einen neuen Weg einschlagen.
Kann man, wird man, muss man. Aber das kann teuer werden, und es gibt auch die Regel, beim Computer nichts zu ändern, wenn er läuft. Darum betreiben selbst grosse ­Firmen oft sehr alte Systeme, die sie gut kennen und in die schon viel Wissen und Geld geflossen ist. Oder einfacher: Wenn Sie und ich viele Jahre lang Texte auf Disketten ­abgespeichert haben, wollen wir sie nicht gerne weggeben.

Bei den Datenträgern für Musik besinnt man sich wieder auf die älteren, sprich Vinyl statt CD. Ist das auch bei der Computerentwicklung denkbar?
Vintage-Bewegungen finden Sie natürlich auch bei Computerfreaks – die sammeln und reparieren alte Geräte, restaurieren Programme.

Macht das Sinn?
Für die, die das machen, ist das offen­bar sinnstiftend.

Können solche Geräte heute noch mithalten?
Da geht es um Authentizität, nicht ums Mithalten – ein Programm ­aufleben lassen, das 1975 lief. Und das funktioniert.

Es geht also gar nicht darum, ­damit heutige Probleme zu lösen?
Doch, doch: Sinnstiftung ist nicht etwas, was sich leicht erledigen lässt. Aber die Fahrzeugtechnik der Formel-1-Boliden wird kaum im Oldtimerklub entwickelt.

David Gugerli, «Wie die Welt in den Computer kam – zur Entstehung digitaler Wirklichkeit», S. Fischer; das Buch ist ab 25. April im Handel.

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