Hier feiern Tausende Country-Fans im Albisgüetli
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Mit Hut und Cowboystiefel:Hier feiern Tausende Country-Fans im Albisgüetli

Ein Besuch bei Cowboys und -girls am Countryfestival Albisgütli
So ticken die Schweizer Western-Fans

Chips, Western, Coca-Cola: Fast ein Jahrhundert lang beeinflusste Amerika die Schweiz. Seit dem Ukraine-Krieg nähern sich die beiden «Schwesterrepubliken» wieder an – und der Country-Lifestyle boomt.
Publiziert: 12.03.2023 um 14:23 Uhr
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Aktualisiert: 18.03.2023 um 22:08 Uhr
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Lea ErnstRedaktorin Gesellschaft

Absätze knallen auf Beton. Die Frau in Cowboystiefeln springt auf ihren Bekannten zu: «Wusst ich doch, dass ich dich hier treffe!» Umarmung. «Sind deine Kälblein schon drin?» Damit meint sie seine Kinder. Er nickt, ist spät dran, hat sich verfahren: «Mitten durch den Kuhfladen!» Den Hauptbahnhof. Arm in Arm gehen die beiden über den Parkplatz. Aus dem Gasthaus Albisgütli klimpert bereits eine Westerngitarre.

Als die zwei in die Konzerthalle am Fuss des Zürcher Hausbergs Uetliberg treten, lassen sie die Stadt hinter sich zurück. Ein schummriger Saloon mit viel Holz, Leder und Jeans. Ein Meer aus Cowboyhüten nickt im Takt der Musik, vier mürrische Sheriffs spielen Karten. Es riecht nach Speck. Die beiden Bekannten winken sich noch einmal zu, dann suchen sie ihre Plätze am Country Music Festival.

Der Westen ist sich wieder nähergekommen

«An einem warmen Sommerabend im Zug ins Nirgendwo», singt Marco Gottardi (54) auf Englisch von der Bühne. «The Gambler» von Countrylegende Kenny Rogers. Gottardi kramt gerne die alten Hits hervor. Johnny Cash, Dolly Parton, Kris Kristofferson. Die Leute sollen mitsingen können, das ist ihm wichtig.

Und tatsächlich: Die vier Sheriffs legen die Spielkarten beiseite. Einer von ihnen, der mit der silbernen Bolo Tie, wie die Westernkrawatte genannt wird, grölt laut mit: «So I handed him the bottle.» Schon als kleiner Bub habe er Westernfilme geschaut. Cowboy – für ihn ist das kein Beruf, sondern eine Einstellung: «Sie steht für Freiheit und Natur, ein simples Leben halt.» Ob er auch im Alltag so rumlaufe? «Nein, da bin ich Informatiker.»

Das 37. Country Music Festival fand dieses Jahr vom 3. Februar bis 5. März statt.
Foto: Lea Ernst

Über Bühne und Tischen hängen zwei grosse Flaggen, die schweizerische und die US-amerikanische. Was hier drin schon lange angesagt ist, hat auch draussen den Weg zurück in den Mainstream gefunden. Zum Beispiel mit der Moderichtung «Cowboy Core»: Die Generation Z posiert auf Tiktok mit Cowboystiefeln und Hüten. Auch über die Leinwand galoppieren wieder Cowboys, mit Neowestern wie dem Kassenschlager «Yellowstone». Kurz: Der Lifestyle aus dem Wilden Westen boomt.

Auch politisch kommen sich Europa und die USA wieder näher. Nachdem die amerikanische Reputation mit der Wahl Donald Trumps (2016) und dem Abzug der Truppen aus Afghanistan (2021) auf dem Tiefpunkt angelangt war, führte der Ukraine-Krieg zur Rennaissance des transatlantischen Bündnisses. Als atomare Schutzmacht Europas gewann Amerika wieder an Bedeutung, die Beziehung zu den USA ist so stark wie seit einer Generation nicht mehr.

Junge Frauen tanzen sich in die Szene

Die Cowgirls und -boys im Albisgütli jubeln, Gottardi stimmt den nächsten Song an. Jeder Platz ist besetzt, die Halle ist restlos ausverkauft. Es ist das erste Mal seit der Corona-Pandemie, dass sich Schweizer Countryfans wieder hier versammeln. Organisator Albi Matter (71) ist begeistert: «Es hiess, dass Konzerte nach der Corona-Pandemie nicht mehr so gut laufen – bei uns war das Gegenteil der Fall!» Fast jedes Konzert war «pumpevolle», einen Monat lang.

Chilbi-Schausteller und Countrymusiker: Marco Gottardi aus Wetzikon ZH.
Foto: Lea Ernst

Vor der Bühne wirbeln die Linedancer und tippen mit ihren Stiefelspitzen. Überdurchschnittlich viele wollten den typischen Countrytanz vergangenes Jahr lernen. Die Linedance-Schule in Gwatt BE konnte gleich drei neue Kurse starten, auch bei den Countrybirds Linedancers aus Oberglatt ZH sind Interesse sowie Anzahl Anfragen letztes Jahr stark gestiegen. Es sind moderne Formen vom Linedance, die hauptsächlich jüngere Frauen anziehen – die sich nun in die früher eher männliche Countryszene tanzen.

Western bis ins letzte Detail: Eine Frau trägt Cowgirl-Ohrringe.
Foto: Lea Ernst

«Es gibt viele Konzerte und Festivals», sagt Gottardi. Inzwischen ist er für die Pause von der Bühne gestiegen. Viele Leute hätten das Vorurteil, dass hier ausschliesslich traditionelle Countrymusik gespielt werde. «Dabei ist das Genre schon lange mit Rock 'n' Roll, Folk und Pop verschmolzen, ist massentauglicher geworden.»

Das grüne Gras in Tennessee

Gottardi war 18, als ihn die Countrymusik mit voller Wucht erwischte – beim Lastwagenfahren. Denn eigentlich macht er Chilbi, seit er denken kann. Mit seiner Frau Rahel (49) und dem Jahrmarkt der Familie reist er von April bis November durch seine Prärie, das Zürcher Oberland.

Ein Rindskopf thront als Dekoration über dem Saal.
Foto: Lea Ernst

Doch so oft es geht, steht der Schausteller selbst auf der Bühne, im Albisgütli zum ersten Mal vor 36 Jahren. Im Westernshop gleich neben der Bühne verdiente er zwischen Chilbi und Konzerten seine «Sporen ab», verkaufte Stiefel und Hüte, lernte andere Countryfans kennen. «So bin ich reingerutscht», sagt er und lacht. Auch Rahel lernte er an einem Countryfestival kennen: Auf ihrer Harley Davidson fuhr sie ihn vor einem seiner Auftritte zur Bühne.

Die grossen vier der Countrymusik

Johnny Cash (1932–2003)

Die Countryikone revolutionierte die Musikszene mit Liedern wie «Hurt», «I Walk the Line» oder «Ring of Fire». Der «Man in Black» mit den schwarzen Kleidern und dem bewegten Leben sang vor US-Präsidenten ebenso wie in Gefängnissen und beeinflusste unzählige Musikerinnen und Musiker mit seinem einzigartigen Stil.

Dolly Parton (77)

Die in Tennessee geborene Parton ist eine der erfolgreichsten Countrysängerinnen – mit mehr als 100 Millionen verkaufter Alben und zehn erhaltenen Grammys. Viele ihrer selbst geschriebenen Lieder sind in der Form von Covers unsterblich geworden: «Jolene», «I Will Always Love You».

Taylor Swift (33)

Ihr neustes Pop-Album «Midnights» brach nahezu alle Rekorde. Dabei zog Swift im Alter von 14 Jahren eigentlich nach Nashville, um Countrymusikerin zu werden – mit Erfolg. Dass sie sich seit 2014 ausschliesslich dem Pop widmet, rechtfertigte sie folgendermassen: «Wenn du versuchst, zwei Kaninchen gleichzeitig zu jagen, wirst du beide verlieren.»

Jeff Turner (1940–2020)

Australier und Schweizer, Chiropraktiker und Countrysänger: Als Turner 1988 den niederländischen Wettbewerb Euro Country Music Master gewann, brachte er Countrymusik in die Schweiz und machte sie hier gross. Es folgten Plattenverträge, Auftritte im Hallenstadion und Konzerte mit Musikgrössen wie Johnny Cash oder Jerry Lee Lewis (1935–2022).

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Johnny Cash (1932–2003)

Die Countryikone revolutionierte die Musikszene mit Liedern wie «Hurt», «I Walk the Line» oder «Ring of Fire». Der «Man in Black» mit den schwarzen Kleidern und dem bewegten Leben sang vor US-Präsidenten ebenso wie in Gefängnissen und beeinflusste unzählige Musikerinnen und Musiker mit seinem einzigartigen Stil.

Dolly Parton (77)

Die in Tennessee geborene Parton ist eine der erfolgreichsten Countrysängerinnen – mit mehr als 100 Millionen verkaufter Alben und zehn erhaltenen Grammys. Viele ihrer selbst geschriebenen Lieder sind in der Form von Covers unsterblich geworden: «Jolene», «I Will Always Love You».

Taylor Swift (33)

Ihr neustes Pop-Album «Midnights» brach nahezu alle Rekorde. Dabei zog Swift im Alter von 14 Jahren eigentlich nach Nashville, um Countrymusikerin zu werden – mit Erfolg. Dass sie sich seit 2014 ausschliesslich dem Pop widmet, rechtfertigte sie folgendermassen: «Wenn du versuchst, zwei Kaninchen gleichzeitig zu jagen, wirst du beide verlieren.»

Jeff Turner (1940–2020)

Australier und Schweizer, Chiropraktiker und Countrysänger: Als Turner 1988 den niederländischen Wettbewerb Euro Country Music Master gewann, brachte er Countrymusik in die Schweiz und machte sie hier gross. Es folgten Plattenverträge, Auftritte im Hallenstadion und Konzerte mit Musikgrössen wie Johnny Cash oder Jerry Lee Lewis (1935–2022).

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Was ihm an der Musik gefällt? «Country erzählt Geschichten, die sind tausend Mal besser als jedes Hörbuch», schwärmt er über die Texte, die vom Leben in Amerika berichten. Country – das ist hüpfendes Banjo, stählerne Zupfgitarre oder leiernde Fiedel. Dazu Akkordeon, Klavier oder Mundharmonika. Das Genre entstand Anfang des 20. Jahrhunderts in Amerika, als sich traditionelle Elemente irischer und englischer Einwanderer mit amerikanischem Hillbilly und Blues vermischten.

Rindsschädel und US-Flagge im Westernshop gleich neben der Bühne.
Foto: Lea Ernst

Das «green green grass of home», das grüne Gras Tennessees, wurde schon von unzähligen Countrystars besungen. Der Bundesstaat gilt als Weltzentrum des Genres, das sich zum Multimilliardengeschäft entwickelte und sich weltweit verbreitete – auch in die Schweiz.

Bundeshaus und Kapitol – eine besondere Beziehung

Gottardi zieht sich den Ehering vom Finger, legt ihn in die Mitte seiner Handfläche. Das Gold dafür haben Rahel und er in Amerika selbst geschürft. Seither verbindet das Paar die Liebe für die USA. «Politisch: nein, Land und Leute: ja», sagen sie über ihre Verbundenheit zu den Staaten. 2014 kauften sie ein Holzhäuschen in Alaska, nordwestlich von Kanada. «Da ist nichts ausser Stille, Wald, Elchen und Bären», sagt Gottardi. «Einfach traumhaft.»

Rahel und Marco Gottardi lernten sich an einem Countryfestival kennen.
Foto: Lea Ernst

Die Schweiz und Amerika verbindet seit den Revolutionen des 18. Jahrhunderts eine spezielle Beziehung. Die beiden Staaten wurden später als «Schwesterrepubliken» bezeichnet, weiss der Historiker Jakob Tanner (72).

Unser Zweikammersystem schaute sich die Schweiz bei der Bundesstaatsgründung von 1848 bei den USA ab. Im Kalten Krieg verstärkte sich die Annäherung der beiden Staaten durch den gemeinsamen Feind, der Sowjetunion. «Gleichzeitig positionierte sich die proamerikanische Schweiz gegen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft», sagt Tanner.

Country liegt in der Familie

Serviceangestellte schieben sich durch die Menge, balancieren ovale Teller so lang wie Pferderücken. Gottardis Silver Dollar Band spielt «Ring of Fire» von Johnny Cash. Gottardi geht durch die Tischreihen, schüttelt Hände, freut sich über das Wiedersehen. Kinder mit Cowboyhüten rennen umher.

Im Westernshop des Festivals verdiente sich Marco Gottardi (l.) «die Sporen ab», als er 18 Jahre alt war.
Foto: Lea Ernst

Bei einer Familie bleibt Gottardi stehen, singt den Refrain: «I fell into a burning ring of fire.» Es sind Trix Neithardt (49) und ihre Familie: Vater, Mutter, Schwester. Sie alle tragen Gottardi-Shirts, sind in seinem Fanklub. Zusammen mit rund 150 anderen Leute, jedes Jahr kommen neue dazu. Die ganze Familie hört Country, die Musik ist für Trix Neithardt Kindheitserinnerung und gemeinsame Ausflüge zugleich.

Countryfan Trix Neithardt (Zweite von links, 49) und ihre Familie: Mutter, Schwester und Vater.
Foto: Lea Ernst

Country hat die Familie auch schon gemeinsam ins Ausland gebracht, zum Beispiel an das C2C-Festival in London, Dublin und Glasgow. Es ist eines der grössten Countryfestivals der Welt. Trix Neithardt sagt: «Dort läuft New Country, das sind viel modernere Lieder.»

Die Amerikanisierung der Schweiz

Coca-Cola, Jeans, Hochhäuser und Pommes-Chips: Als die Countrymusik Anfang des 20. Jahrhunderts in Amerika entstand, begann auch die Amerikanisierung der Schweiz. Konservative Kräfte sahen darin eine Bedrohung guter Sitten und europäischer Traditionen. Doch: «Amerika war eine aufstrebende Macht mit einer Wirtschaftsleistung, von der Europa nur träumen konnte», sagt Tanner.

Am Ende des Ersten Weltkrieges hatte sich die Schweiz auf amerikanische Seite geschlagen. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellten dann rund 300'000 amerikanische Soldaten die Schweiz auf den Kopf. Sie wurden hierher eingeladen, um sich zu erholen.

Am Festival gibt es Stiefel in allen Formen und Farben.
Foto: Lea Ernst

Die Soldaten machten die Schweizer Bevölkerung mit dem American Way of Life bekannt und lösten eine Amerikanisierung «von unten» aus, wie Tanner es nennt. Junge Halbstarke in Jeans und Karohemd eigneten sich den amerikanischen Lifestyle an – und distanzierten sich gleichzeitig vom politischen Establishment.

Die Filmindustrie sprang auf den Zug auf, flutete das europäische Kino und das Fernsehen ab den 50ern mit Westernfilmen. John Ford, Clint Eastwood, John Wayne wurden zu den neuen Vorbildern. Mit dem tatsächlichen amerikanischen Westen hatten diese Streifen wenig zu tun: «Die Amerikanisierung war schon immer hauptsächlich Projektionsfläche», sagt Tanner.

Was in der Szene in ist, hat seinen Weg zurück in den Mainstream gefunden: Kleider wie im Wilden Westen.
Foto: Lea Ernst

Auch heute sei der konsumorientierte amerikanische Lebensstil eher Eskapismus als Zukunft, keine vielversprechende Vision mehr. «Der Klimawandel hat die Faszination für das, wofür Amerika im 20. Jahrhundert begehrt war, gedämpft.» Auch die männlichen Western-Vorbilder seien out.

«Das hier ist meine Familie»

Die ganze Halle ist auf den Beinen, applaudiert im Stehen. Gottardi verbeugt sich, ist etwas ausser Atem. Das letzte Jahr war für ihn gleich doppelt streng: An der Chilbi herrschte Personalmangel, gleichzeitig wurden alle zuvor abgesagten Konzerte nachgeholt – an bis zu fünf Abenden pro Woche. In manchen Nächten schlief Gottardi nur ein paar Stunden irgendwo im Lastwagen.

Im letzten Jahr ist das Interesse am Linedance gestiegen – vor allem bei jüngeren Frauen.
Foto: Lea Ernst

Die Countryszene wollte er trotzdem um keinen Preis missen. «Ich kann keine Noten lesen, bin Legastheniker, habe keine höhere Schulbildung. Alles, was ich habe, ist meine Stimme, die hat mich hierhergebracht», sagt Gottardi. Egal, wie müde er ist, an den Countryabenden tankt er Energie. Es geht um Zusammenhalt, Gemeinschaft. «Das hier ist meine Familie.»

Seit 2014 gehört Rahel und Marco Gottardi ein Holzhäuschen im US-Bundesstaat Alaska.
Foto: Lea Ernst

Für Gottardis letztes Stück stürmen die Linedancer noch einmal vor die Bühne, bevor sie wieder in die hektische, komplexe Welt da draussen zurückkehren. Noch einmal einreihen, die Zeit vergessen. Der klar vorgegebenen Linie folgen. Für einen Abend ist das Leben wieder einfach. Manchmal dreht man sich zwar im Kreis. Doch alle anderen drehen mit.

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