«Es sind Probleme auf verschiedenen Ebenen»
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Psychologin über Midlifecrisis:«Es sind Probleme auf verschiedenen Ebenen»

Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello über die zweite Lebenshälfte
«Männer ertragen Einsamkeit schlechter als Frauen»

Nach der Krise um die 50 geht es in der zweiten Lebenshälfte wieder aufwärts: Wie unterschiedlich Männer und Frauen mit dem Übergang ins Alter umgehen, weiss die Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello.
Publiziert: 12.03.2023 um 18:20 Uhr
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Aktualisiert: 13.03.2023 um 13:23 Uhr
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Katja RichardRedaktorin Gesellschaft

Ich bin 53 und habe, glaube ich, eine Midlife-Crisis!
Pasqualina Perrig-Chiello: Wie nehmen Sie das wahr?

Es ist dieses Gefühl, dass ich nicht mehr viele Perspektiven habe, dass für vieles im Beruflichen wie im Privaten der Zug abgefahren ist.
Also die Tristesse pur! (Lacht.) In der Entwicklungspsychologie sprechen wir nicht gerne von Krise, sondern von der krisenanfälligen Zeit zwischen 45 und 55. Wenn man die Kurve mit Lebenszufriedenheit anschaut, ist sie in dieser Lebensphase im Durchschnitt am tiefsten. Aber grundsätzlich sind Krisen nichts Schlechtes, im Gegenteil.

Warum?
Sie ist ein Zeichen, dass man etwas verändern muss. Es ist ein ganz normaler Prozess in diesem Alter, der Lebensmitte. Man zieht Bilanz, was habe ich in meinem Leben erreicht, was waren meine ursprünglichen Träume. Vielleicht wollte man mal Sängerin oder Pilot werden – und es ist anders gekommen.

Die Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello forscht zur zweiten Lebenshälfte.
Foto: Thomas Andenmatten
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Aber Sängerin oder Pilot kann man mit 50 ja nicht mehr werden.
Es geht darum, sich darüber klar zu werden, wie man die zweite Lebenshälfte gestalten will. Wichtig ist, den Mindset zu verändern und offenzubleiben. Früher war eine 50-jährige Frau uralt, heute hat man in dem Alter im Schnitt noch 30 bis 35 Jahre bei guter Gesundheit vor sich, es lohnt sich also, sich nochmals neu zu positionieren.

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«Wenn man sich als Frau abstempeln lässt, hat man schon verloren.»
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Bleiben wir nicht immer die Gleichen?
In unserem Innersten schon, die Persönlichkeit festigt sich so um die 30. Was sich immer wieder verändert, ist unsere Identität, also unsere Rollen im Leben. Die wird von der Gesellschaft mitgeprägt, und da herrschen noch immer negative Altersbilder vor, insbesondere gegenüber Frauen, die primär aufgrund ihres Äusseren beurteilt werden – Ageismus und Sexismus ist gleich eine doppelte Diskriminierung. Das ist tief verankert, ein gutes Beispiel dafür ist die Kunst: Alte Männer wurden als Könige und Propheten dargestellt, alte Frauen als Hexen. Oder haben Sie schon mal eine runzlige Madonna gesehen?

Pasqualina Perrig-Chiello forscht zu den wichtigen Übergängen im Leben.
Foto: Thomas Andenmatten

Wie gehe ich damit um?
Wenn man sich als Frau so abstempeln lässt, hat man schon verloren. Wichtig ist, eigene Standards zu entwickeln und alte Selbstbilder loszulassen. Dazu gehört auch die Einsicht, dass man nicht mehr zu den Jungen gehört. Aber wenn ich mit 70 noch rote oder grüne Haare haben will, dann ist das meine Sache. Man hört oft von Altersstarrsinn, ich nenne das Eigensinn. Dank Lebenserfahrung weiss man irgendwann, was einem guttut und was nicht und handelt entsprechend.

Sie tragen mit 70 noch eine Lederjacke!
Ja, und das werde ich auch mit 80 noch tun. James Dean war schon immer mein Vorbild (lacht). Aber ich werde dann wahrscheinlich keine Vorträge und Interviews mehr geben. Irgendwann wird man doch fragiler und weniger leistungsfähig. Und man muss auch Platz für die Jüngeren machen, die nachkommen.

Was ist Ihr aktuelles Projekt?
Ein Buch über die grossen Übergänge im Leben. Da ist zuerst das Erwachsenwerden, wenn man aus der behüteten Jugend plötzlich für sich selber verantwortlich ist. Dann kommt die Lebensmitte, die Pensionierung und schliesslich das hohe Alter, in dem man hilfsbedürftig wird und es aufs Sterben zugeht. Früher hat man diese Übergänge mit Ritualen begleitet, weil das meist schwierige Prozesse mit viel Unsicherheiten sind. Man verabschiedet sich von alten, vertrauten Rollen und muss sich in neuen wiederfinden.

In welcher Lebensphase gehts es uns am besten?
Wenn man ganz jung ist und noch alles vor sich hat und wenn man älter ist. Die meisten erreichen die Talsohle in den mittleren Jahren, dann gehts wieder aufwärts. Letzteres wird in der Wissenschaft als das Paradox des Wohlbefindens des Alters bezeichnet.

Wieso das?
Weil die meisten denken, je älter man werde, desto schlechter gehe es einem. Dann müsste ich ja jetzt mit 70 total depressiv sein. Viele erleben mit der Pensionierung ihre beste Zeit, man hat beruflichen Stress und viele familiäre Pflichten hinter sich und ist krisenerprobt. Man kann Ballast abwerfen, muss es nicht mehr jedem recht machen. In der Regel hat man im Alter auch nicht mehr so hohe Ansprüche ans Leben, man wird gelassener, demütig und dankbarer.

Am glücklichsten sind wir laut der Entwicklungspsychologin, wenn wir jung sind oder im Pensionsalter.
Foto: Thomas Andenmatten

Ihr Forschungsgebiet ist die zweite Lebenshälfte. Wie sind Sie darauf gekommen?
Zunächst habe ich mich als Entwicklungspsychologin ganz klassisch mit dem Thema Kindheit und Jugend befasst, bis ich zufällig in eine Altersstudie involviert wurde. Zuerst eher widerwillig. Alter, das fand ich damals nicht so sexy. Aber dann haben mich die Interviews mit den hochaltrigen Menschen zutiefst beeindruckt. Aufgrund der Forschungsergebnisse ist mir klar geworden: Wenn man das Ende des Lebens verstehen will, muss man auch die früheren Jahre untersuchen.

Kann ich mit 50 noch die Weichen fürs Alter stellen?
Absolut. Das ist in der Forschung gut belegt. Zum Beispiel sagt die Dauer des Medienkonsums im mittleren Alter etwas über das Demenzrisiko aus. Oder die Blutdruckwerte über die Gesundheit im Alter. Von nichts kommt nichts, ich gehe auch seit 30 Jahren ins Krafttraining. Wichtig ist, dass wir lebendig bleiben, der Mensch braucht Stimulation: sozial, geistig und körperlich. Und damit meine ich nicht nur lebenslanges Lernen und Bewegung, sondern auch Berührung. Und wenn man sie nur in einer Massage bekommt.

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«Grundsätzlich sind Krisen nichts Schlechtes, im Gegenteil.»
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Was für eine Rolle spielt die Sexualität im Alter?
Auf Studien kann man sich da kaum verlassen, davon glaube ich nicht mal die Hälfte.

Warum?
Weil gemogelt wird. Viele werden beeinflusst von sozialen Erwartungen und übertreiben. Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass das biografisch bestimmt ist. Also wer in jungen Jahren viel Wert auf sein Sexualleben legt, der tut es auch später und umgekehrt. Interessant ist der Geschlechterunterschied bei den Befragungen.

Was fällt dabei auf?
Fragt man nach der Zufriedenheit in der Sexualität, sind Männer bedeutsam unzufriedener als Frauen. Genau umgekehrt ist es, wenn es um die Beziehung im Ganzen geht, da sind wiederum die Frauen unzufrieden.

Schläft die Sexualität im Alter nicht ohnehin ein?
Sie verändert sich. Schön finde ich es, von älteren Paaren zu hören, wie sich ihr Intimleben verändert. Nämlich, wenn sich die Sexualität mehr und mehr in Zärtlichkeit verwandelt. Das ist es, was wir bis an unser Lebensende brauchen: Nähe und Berührung.

Die Liebe im Alter haben Sie vor wenigen Jahren in einer gross angelegten Studie unter die Lupe genommen.
Man wusste zwar aufgrund von Zahlen, dass es im Alter um die 50 zu den meisten Scheidungen kommt. Aber warum sich Paare nach 20 oder 30 Jahren Ehe scheiden lassen, das konnte man bis dahin nur vermuten.

Männer und Frauen gehen anders mit Krisen und Einsamkeit um, weiss Perrig-Chiello.
Foto: Thomas Andenmatten

Was war Ihre These?
Ich dachte, dass man sich nach Jahrzehnten in einer Beziehung nur wegen einer neuen Liebe trennt. Der häufigste Scheidungsgrund ist aber die Entfremdung. Man hat sich nichts mehr zu sagen, es ist dieses gemeinsame Verstummen. Bestätigt hat sich, dass die Frauen die Trennung herbeiführen. Heute sind Frauen unabhängiger als frühere Generationen und verharren nicht mehr in unbefriedigenden Ehen. Und mit der Studie hat sich auch ein Mythos aufgelöst.

Welcher?
Dass eine lange Ehe der Indikator für eine glückliche Ehe ist. Wir haben für die Studie mehrere Hundert Paare befragt, die über 50 Jahre verheiratet sind: Es hat sich herausgestellt, dass 42 Prozent alles andere als glücklich sind.

Warum bleibt man da noch zusammen?
Aus Angst vor dem Alleinsein, aber auch vor Statusverlust. Das gilt vor allem für Frauen. Es ist noch eine andere Generation, die kaum Zugang zu Bildung hatte und sehr spät zu politischen Rechten kam.

Mitten im Leben

Die emeritierte Professorin für Entwicklungspsychologie beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Alters- und Generationenfragen: Pasqualina Perrig-Chiello (70) studierte an der Uni Freiburg Heilpädagogik und Psychologie und ist systemische Familientherapeutin. Als Professorin an der Universität Bern hat sie die erste grosse Langzeitstudie im deutschsprachigen Raum zum Thema Liebe in der zweiten Lebenshälfte durchgeführt. Perrig-Chiello ist Fachbuch-Autorin («Wenn die Liebe nicht mehr jung ist»), Vizepräsidentin der Seniorenuniversität Bern und Präsidentin von Silbernetz Schweiz. Perrig-Chiello ist seit 48 Jahren verheiratet, hat zwei Söhne und ein Enkelkind. Sie lebt im Wallis.

Forscht zur zweiten Lebenshälfte: Pasqualina Perrig-Chiello.
Thomas Andenmatten

Die emeritierte Professorin für Entwicklungspsychologie beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Alters- und Generationenfragen: Pasqualina Perrig-Chiello (70) studierte an der Uni Freiburg Heilpädagogik und Psychologie und ist systemische Familientherapeutin. Als Professorin an der Universität Bern hat sie die erste grosse Langzeitstudie im deutschsprachigen Raum zum Thema Liebe in der zweiten Lebenshälfte durchgeführt. Perrig-Chiello ist Fachbuch-Autorin («Wenn die Liebe nicht mehr jung ist»), Vizepräsidentin der Seniorenuniversität Bern und Präsidentin von Silbernetz Schweiz. Perrig-Chiello ist seit 48 Jahren verheiratet, hat zwei Söhne und ein Enkelkind. Sie lebt im Wallis.

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Was passiert mit den Frauen und Männern, die sich mit 50 scheiden lassen?
Da gibt es grosse Unterschiede. Männer gehen schnell wieder eine Beziehung ein, egal, ob sie verlassen wurden oder gegangen sind, das Gleiche gilt übrigens auch für Witwer. Hauptgrund hierfür ist, dass Männer Einsamkeit schlechter als Frauen ertragen.

Gehen Männer mit Krisen anders um?
Frauen sind in der Regel im Vorteil, weil sie untereinander über ihre Sorgen reden können. Sie holen sich früher Hilfe. Bei Männern herrscht zumeist das grosse Schweigen, bis es zu plötzlichen Brüchen kommt. Das kann ein Burnout sein oder sie verlassen Job oder Familie von einem Tag auf den anderen. Wir haben vom Silbernetz Schweiz eine Hotline für ältere einsame Menschen eingerichtet: 94 Prozent der Anrufe kommen von Frauen!

Sind Frauen im Alter häufiger allein, und warum ist das so?
Ja. Weil Männer die grössere Auswahl haben. Ein 60-Jähriger kann eine 35-Jährige heiraten und nochmals eine Familie gründen. Umgekehrt funktioniert das nicht so einfach.

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«Fragt man nach der Zufriedenheit in der Sexualität, sind Männer bedeutsam unzufriedener als Frauen.»
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Aber sind das nicht veraltete Rollenklischees?
Das ist empirisch nachgewiesen und heute noch die Realität. Diese Rollen sind tief in unserer Gesellschaft verankert. Männer achten bei der Partnerwahl weniger auf soziale Schicht und Bildung, Hauptsache die Frau ist hübsch, nett und jung. Umgekehrt haben Frauen höhere Ansprüche, sie heiraten in der Regel nicht nach unten, weder altersmässig noch sozioökonomisch. Zudem ist die Lebenserwartung der Männer tiefer. Je höher das Alter der Frau, desto kleiner die Auswahl, auch weil viele Männer bereits in einer Partnerschaft sind. Aber viele Frauen haben Freunde und Familie und sind auch solo glücklich und zufrieden.

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