Frauen als Protestikonen
Sie wurden ermordet – ihr Andenken lebt weiter

Der Tod der Kurdin Jina Mahsa Amini löste im Iran grosse Proteste aus. So auch die Ermordung anderer Aktivistinnen, Politikerinnen und Studentinnen. Wir zeigen, wie ihre Geschichten bis heute wirken.
Publiziert: 15.09.2023 um 20:42 Uhr
Natasa Mitrovic und Aleksandra Hiltmann
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Polen/Deutschland: Rosa Luxemburg, 1919 erschossen

Foto: Imago/ UIG

Schon während ihrer Schulzeit in Warschau engagierte sich Rosa Luxemburg, Tochter eines jüdischen Holzhändlers, in einer marxistischen Untergrundgruppe. Nach ihrem Abitur musste sie deshalb nach Zürich fliehen. Hier studierte sie an der Philosophischen Fakultät und traf Gleichgesinnte. Sie forderten den Sturz von Kapitalismus und der Monarchie. Nach ihrer Promovierung 1897 zog sie nach Berlin und schloss sich der SPD an. Sie propagierte Klassenkampf, Sozialismus und gleiche Verhältnisse für alle. Unzählige Gefängnisaufenthalte brachten sie von ihrer Überzeugung nicht ab. Schon vor Beginn des Ersten Weltkriegs rief sie öffentlich dazu auf, den Kriegsdienst zu verweigern. Später brach sie mit der SPD, gründete den «Spartakusbund», eine Gruppe radikaler Sozialistinnen und Pazifisten, und darauf die Kommunistische Partei Deutschlands. Beim «Spartakusaufstand» 1919 in Berlin protestierte sie gegen die Übergangsregierung nach dem Kaiserreich. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen. Am 15. Januar 1919 wurde Rosa Luxemburg von regierungsnahen rechten Freikorpssoldaten ermordet. Da ihre Leiche kaltblütig im Landwehrkanal entsorgt und erst Monate später geborgen wurde, fand der Trauerzug mit leerem Sarg statt. Der Andrang an der Beerdigung war so gross, dass Eintrittskarten verkauft wurden. Ihre Beerdigung glich einer Massendemonstration. Schon zu Lebzeiten wurde Rosa Luxemburg eine Symbolfigur für Freiheit, Gleichheit und Frieden, ihre Ermordung machte sie endgültig zur Ikone der Arbeiterbewegung. Noch heute erinnern Strassen, Plätze, Schulen und eine renommierte Stiftung, die nach ihr benannt sind, an ihr Schaffen und ihre Werte. 

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Irak: Leyla Quasim, 1974 hingerichtet

Leyla Quasim wurde 1952 im Nordirak geboren. Mit 18 trat sie der kurdischen Studierendenbewegung bei. Als Soziologie-Studentin in Bagdad verfasste sie einen Artikel über Saddam Husseins Feindlichkeit gegenüber Kurdinnen und Kurden. Sie geriet ins Visier des Ba'ath-Regimes und wurde später verhaftet. 1974 richtete sie das Regime zusammen mit vier Mitstreiterinnen und Mitstreitern hin. Kurz vor der Hinrichtung soll sie gesagt haben: «Meine Exekution wird Tausende Kurden aus dem Schlaf wecken. Ich bin glücklich, dass ich mit Stolz für ein unabhängiges Kurdistan sterben werde.» Bis heute wird ihr jedes Jahr gedacht, kurdische Zeitungen berichten über sie, Statuen wurden für sie errichtet. Für viele bleibt sie ein Symbol des Widerstandes, auch für jene Kurdinnen, die sich aktuell in der Frau-Leben-Freiheit-Bewegung engagieren. 

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Russland: Anna Politkowskaja, 2006 erschossen

Foto: Keystone

Am 7. Oktober 2006 wurde die Journalistin Anna Politkowskaja im Lift ihrer Moskauer Wohnung erschossen. Die 48-Jährige galt als eine der schärfsten Kritikerinnen des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Politiowskaja arbeitete für die regierungskritische Zeitung «Nowaja Gaseta» und berichtete über den Zweiten Tschetschenienkrieg Anfang der Nullerjahre. Ihre Recherchen deckten Kriegsverbrechen der russischen Armee und verbündeten tschetschenischen Kriegsgruppen auf. Nach ihrer Ermordung kam es in Russland zu zahlreichen Protesten, die teils gewaltsam niedergeschlagen wurden. 2021 verjährte der Mord nach russischem Recht. Obwohl die Täter verurteilt wurden, gilt der Fall als ungelöst, da der oder die Auftraggeber bis heute nicht ermittelt wurden. Die Hinterbliebenen, ehemalige Kolleginnen und Kollegen und der Chefredaktor der «Nowaja Gaseta» kämpfen weiterhin für die vollständige Aufklärung des Mordes und halten die Erinnerungen an die Journalistin wach. 2018 legten sie vor der Redaktion in ihrem Namen ein Blumenbeet an. 2021 organisierten sie einen Flashmob. Dieses Jahr veröffentlichte die Tochter von Anna Politkowskaja, Vera Politkowskaja, zusammen mit der Journalistin Sara Giudice ein Buch – «Meine Mutter hätte es Krieg genannt». 

Sie gehört zu einer Reihe mutiger Frauen, die ermordet wurden, weil man ihre Arbeit fürchtete: die russische Journalistin Anna Politkowskaja – erschossen.
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Kosovo: Diana Kastrati, 2011 erschossen

Foto: Armend Nimani/ AFP

Diana Kastrati war 35 und Medizinstudentin, als sie in Pristina von ihrem Ex-Mann ermordet wurde – weil sie eine Frau war. Der Femizid an ihr treibt bis heute Menschen auf die Strassen. In Kosovo finden sehr häufig Demonstrationen gegen Femizide statt, Frauenorganisationen versammeln sich vor dem Gericht, vor der Polizeistation, marschieren durch die Strassen von Städten, wo Morde verübt wurden, prangern patriarchale Gewalt mit roten Graffitis an. Und immer wieder fällt der Name von Diana Kastrati. Auch Jahre nach dem Mord an ihr tragen Menschen weiter Bilder von ihr zu Protesten. Sie wurde zu einem der Gesichter einer Bewegung, die seit Jahren beharrlich gegen Gewalt an Frauen kämpft. Diana Kastratis Name taucht auch im neuen Bericht von Amnesty International zu häuslicher Gewalt in Kosovo auf. Als ein Fall, bei dem die Justiz versagt hat, in einem wiederkehrenden Muster, bei dem Frauen nicht geschützt werden, obwohl sie die Behörden teils mehrfach um Hilfe gebeten hatten. 

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Afghanistan: Farkhunda Malikzada, 2015 ermordet

2015 wurde die 27-jährige Farkhunda Malikzada von einem wütenden Männermob in den Strassen Kabuls geschlagen und lebendig verbrannt. Sie wurde beschuldigt, einen Koran verbrannt zu haben. Später stellte sich heraus, dass diese Anschuldigung falsch war. Die Reaktion waren grosse Proteste, an denen insbesondere Frauen mehr Sicherheit forderten. Tausende marschierten mit Plakaten von Farkhunda Malikzada und mit roter Farbe verschmierten weissen Umhängen und Gesichtern durch die Strassen. An ihrer Beerdigung trugen Frauen ihren Sarg – entgegen der Sitte, dass Frauen der Zeremonie fernbleiben müssen.  

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Myanmar: Mya Thwe Thwe Khaing, 2021 erschossen

Foto: imago images/ZUMA Wire

Kurz vor ihrem 20. Geburtstag beteiligte sich die Lebensmittelverkäuferin Mya Thwe Thew Khaing an einer Demonstration gegen die Militärputschisten in Naypyidaw, der Hauptstadt Myanmars. Dort wurde sie von Sicherheitskräften angeschossen und starb später im Spital. Videos von diesem Angriff kursierten schnell im Netz, einige bezeichneten sie im Zuge der Pro-Demokratie-Proteste als «Märtyrerin». In den Tagen nach ihrem Tod brachten Protestierende an einer Brücke in der Stadt Yangon ein grosses Transparent an, das die junge Frau zeigte. Darauf die Worte: «Lasst uns gemeinsam gegen den Diktator kämpfen, der das Volk tötet.» An den Protesten gegen die Militärjunta hielten Tausende ihr Bild hoch. Mya Thew Thwe Khaing war das erste Todesopfer der Proteste gegen den Militärputsch vom 1. Feburar 2021. Es sollten Hunderte folgen. 

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Ukraine: Victoria Amelina, 2023 getötet im Krieg

Foto: Global Images Ukraine via Getty Images

Am 27. Juni schlug in Kramatorsk eine Rakete in ein Restaurant ein. Die ukrainische Autorin und Menschenrechtsaktivistin Victoria Amelina wurde verletzt und erlag am 1. Juli 2023 ihren Verletzungen. Zuletzt engagierte sie sich für die Aufklärung von Kriegsverbrechen und war in der humanitären Hilfe tätig. Bereits 2021 gründete sie ein Literaturfestival in der Region Donetsk – um zu zeigen, dass der Krieg das Leben nicht stoppen kann. Der Krieg habe ihr erst die Sprache verschlagen, schreiben Kollegen in Nachrufen. Dann schreibt sie Gedichte, in der er Eingang findet. Kunst und Literatur war für Victoria Amelina auch ein Akt des Widerstandes. Ihr Tod löste über die Ukraine hinaus Bestürzung aus. In Irland protestierten Mitglieder des internationalen Autorinnen- und Autorenverbands (PEN) vor der russischen Botschaft, in den sozialen Medien brachten unzählige Menschen ihre Wut und Trauer zum Ausdruck und teilten Bilder von Victoria Amelinas Beerdigung, in Dänemark rezitierten Menschen an einer Gedenkveranstaltung ihre Poesie. Das Onlinemagazin «Republik» veröffentlichte fünf ihrer Gedichte, der «Guardian» einer ihrer Texte darüber, was es bedeutet, Ukrainerin zu sein – und längst nicht mehr nur für die Ukraine, sondern für ganz Europa zu kämpfen.

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