Letztes Glaswerk vor dem Aus
Schliesst ihre Fabrik, geht all unser Altglas ins Ausland

Die Schweiz droht ihre letzte Glasflaschenfabrik zu verlieren. Über 180 Angestellte kämpfen um ihre Existenz. Ein Dorf ringt um sein Selbstverständnis. Doch dann nimmt alles eine noch grössere Dimension an.
Foto: Philippe Rossier
Schweizer Glasflaschenfabrik von Vetropack in Saint-Prex steht vor dem Aus
«Ich habe mehr Zeit in der Fabrik als zu Hause verbracht»
1:13
Interview von Ende April:«Ich glaube, wir können die Fabrik noch retten»
Publiziert: 27.04.2024 um 11:08 Uhr
|
Aktualisiert: 29.04.2024 um 12:00 Uhr

Am Genfersee steht eine aussergewöhnliche Fabrik. Ein Werk aus Stahl und Beton, das 90'000 Quadratmeter umfasst und seit 113 Jahren die Region prägt. Das Scheddach hat Zacken wie ein Sägeblatt, so wie Tausende von Lagerhallen im Land. Doch die Fabrik in Saint-Prex VD ist nicht einfach eine von vielen – sie ist die letzte ihrer Art in der Schweiz.

Das Schicksal der Fabrik betrifft die ganze Schweiz.
Foto: Philippe Rossier

Noch in diesem Jahr soll die einzig verbliebene Glasflaschenfabrik für immer schliessen. Das Konsultationsverfahren ist eröffnet. Und Vetropack, das Unternehmen hinter der Glashütte, will vorwärtsmachen. Bereits im Juli könnte Schluss sein. Über 180 Mitarbeitende stehen dann vor dem Aus. 

Blick hat neun Angestellte in Saint-Prex getroffen. Einer davon ist Joao Ferreira (56), ein Glasmacher, der seit 29 Jahren im selben Betrieb arbeitet. «Diese Fabrik ist mein Leben», sagt Ferreira und zeigt auf die Glashütte hinter sich. Seine Schichten leistet er in der «Hölle». Dort, wo eine 1300 Grad heisse Schmelzwanne glüht und täglich 340 Tonnen Glas geschmolzen werden. «Hier habe ich mehr Zeit verbracht als zu Hause», sagt Ferreira und spricht damit für viele seiner Arbeitskollegen.

«Es geht um unsere DNA»

Die Glasmacher kämpfen um ihre Existenz. Eine ganze Ortschaft ringt um ihr Selbstverständnis. «Es geht um unsere DNA», sagt Stéphane Porzi (58), der Gemeindepräsident von Saint-Prex. Sein Vater verbrachte sein ganzes Leben in dieser Fabrik. So wie sein Grossvater. «Ich bin ein Kind von Vetropack», sagt Porzi – und er ist nicht das Einzige.

Gemeindepräsident Stéphane Porzi steht in der Friedenshalle. Einst baute die Glasfabrik diesen Saal, damit das Dorf einen Treffpunkt hat.
Foto: Philippe Rossier

Die örtliche Blaskapelle, der Turnverein, der Fussballklub, sie alle sind aus der Glasfabrik hervorgegangen und mit ihr verbunden. Was geschieht mit ihnen, wenn die Fabrik schliesst? «Vielleicht mache ich mir zu viele Sorgen», sagt Porzi. «Aber ich habe Angst, dass alle Arbeiter gehen. Dass sie wegziehen müssen.»

Noch läuft in Saint-Prex der Schmelzofen. Bei Tag und Nacht. Bis zu 800'000 Glasflaschen entstehen in 24 Stunden, vor allem Weinflaschen, die dann Winzer am Genfersee kaufen. Doch das drohende Schicksal der Fabrik betrifft nicht nur eine Region, sondern das ganze Land.

In Saint-Prex entstehen bis zu 800’000 Glasflaschen in 24 Stunden.
Foto: Keystone

Die Schweiz ist stolz auf ihr Recyclingsystem. Alle kippen ihre Flaschen in Container. Die Sammelquote beträgt bis zu 97 Prozent. Ein Spitzenwert. 300'000 Tonnen Altglas kommen so jedes Jahr zusammen. Die Glashütte in Saint-Prex recycelt 100'000 Tonnen. Ausser dieser Fabrik gibt es in der Schweiz keinen nennenswerten Recycler. Ohne diese letzte Glashütte exportieren wir fast all unser Altglas ins Ausland. 

Das führt zu einem erhöhten Transportaufwand und mehr CO2-Emissionen. «Auf die Umwelt wirkt sich das negativ aus», sagt Corinna Baumgartner (45), Umweltwissenschaftlerin an der ZHAW. Entscheidend sei, wie weit das Altglas transportiert werde. Oft sind diese Exportströme aber nicht nachvollziehbar. «Am besten wäre es, den Recyclingprozess in der Schweiz durchzuführen.»

Corinne Meier (55) ist konsterniert. Die Datenmanagerin verbrachte ihre ganze Karriere bei Vetropack. So wie ihr Vater, eine weitere Generation. «Ich bin sehr traurig», sagt Meier. «Wir sammeln fleissig Leergut und dann soll es Tausende Kilometer exportiert werden? Das ist völlig unlogisch». Dabei war es ausgerechnet das Unternehmen Vetropack, das vor 50 Jahren die flächendeckende Einsammlung von Altglas in der Schweiz einführte.

Ein Dorf ringt um sein Selbstverständnis. «Ich bin sehr traurig», sagt Corinne Meier.
Foto: Philippe Rossier

Und Saint-Prex ist die Geburtsstätte von Vetropack. Als Pionier errichtete Henri Cornaz 1911 die Glasfabrik, baute Arbeiterwohnungen, einen Saal für die Gemeinde und gründete sogar eine eigene Kirche. Mit der Glashütte kam der wirtschaftliche Aufschwung. Ein Dorf, eine Fabrik.

Ab 1959 dominiert Vetropack den Schweizer Markt für Verpackungsglas. Später folgt die Expansion ins Ausland: Österreich, Italien, Tschechien, Kroatien, die Slowakei, die Ukraine und die Republik Moldau. Das Unternehmen wächst, hat mittlerweile 4000 Mitarbeitende. Nur in der Schweiz läuft das Geschäft schlecht. Vor dreissig Jahren schliesst Vetropack eine Glashütte in Wauwil LU. 2002 folgt das Werk in Bülach ZH. In der Heimat verbleibt nur noch eine Glashütte. Jene in Saint-Prex. Und nun soll die Geschichte dieser Fabrik, in der alles begann, ein abruptes Ende finden. 

Der Kampf hat sich ausgedehnt

Gemeindepräsident Porzi will nicht daran glauben, die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich eine Schliessung verhindern lässt. «Aber leider haben wir als Gemeinde nicht die nötige Entscheidungsgewalt.» Ein 5900-Seelendorf ringt um seine Fabrik. Doch mittlerweile hat dieser Kampf eine grössere Dimension angenommen, er hat sich ausgedehnt, ist in Bundesbern angekommen.

Eine Glashütte ist keine Grossbank, die der Bundesrat per Notrecht rettet. Die Schweiz blickte nur für einen kurzen Moment nach Saint-Prex, als es die geplante Schliessung in die grössten Tageszeitungen schaffte. Das Schicksal der Fabrik wäre längst wieder vergessen, hätte der Kanton Waadt nicht sein ganzes politisches Gewicht in die Waagschale geworfen.

Die Angestellten von Vetropack kämpfen um ihre Existenz.
Foto: keystone-sda.ch

Zuerst trat ein linker Anführer auf den Plan, der Gewerkschaftsboss Pierre-Yves Maillard (56). Als Waadtländer Ständerat besuchte er mit seinem Amtskollegen Pascal Broulis (59), einem Freisinnigen, die besorgten Mitarbeitenden von Vetropack. Broulis’ Solidarität mit den Arbeitern aus Saint-Prex markierte den Anfang einer ungewöhnlichen Allianz, in der Liberale auf einmal mehr staatliches Engagement fordern. Selbst die Waadtländer FDP-Staatsrätin und Wirtschaftsvorsteherin Isabelle Moret (53) schloss sich dem Kampf der Arbeiter an und forderte, «alle Optionen zu prüfen, um die Arbeitsplätze zu erhalten».

Die Solidarisierung nahm kein Ende. Der Waadtländer Grosse Rat verabschiedete einen Beschluss, in dem die geplante Schliessung als «dem gesunden Menschenverstand widersprechend» bezeichnet wird. Der Höhepunkt folgte dann vergangene Woche, als alle 19 Nationalräte der Waadt einen Vorstoss unterzeichneten. Darin fordern sie den Bundesrat dazu auf, eine nationale Industriestrategie zugunsten der Glasproduktion zu entwickeln. Im Waadtland ist eine heilige Allianz entstanden, bestehend aus Mitgliedern aller politischen Lager. Ein Kanton, eine Fabrik.

Die Glashütte in Saint-Prex existiert seit 113 Jahren.
Foto: Philippe Rossier

«Ich habe keinen Plan B»

Doch kommt die Hilfe zu spät? Vetropack könne sich im laufenden Konsultationsverfahren nicht dazu äussern, lässt die Kommunikationsabteilung ausrichten. Wer die Medienmitteilung der Firma liest, bekommt den Eindruck, eine Schliessung sei unumgänglich. Man habe verschiedene Entwicklungsszenarien geprüft, steht da geschrieben. Aber «keines von ihnen führte bislang zu einem positiven wirtschaftlichen Ergebnis». Über die Zukunft der Fabrik müsse jetzt entschieden werden, da die Schmelzwanne altersbedingt zu ersetzen sei. 30 Millionen Franken soll es kosten. «Das ist unter den gegebenen Rahmenbedingungen nicht darstellbar.»

Einen neuen Job suchen? Umziehen? «Ich habe keinen Plan B», sagt Ferreira nur.
Foto: Philippe Rossier

«Ich bin schockiert, dass sie die Fabrik schliessen wollen», sagt Ferreira. Doch der Glasmacher denkt nicht ans Aufgeben. Einen neuen Job suchen? Umziehen? «Ich habe keinen Plan B», sagt Ferreira nur. Seine Energie investiert er derzeit anders. Als Vorsteher der Arbeitergruppe vertritt Ferreira im Konsultationsverfahren die Angestellten, zusammen mit der Gewerkschaft Unia. Sein Team erarbeitet Lösungen, damit die Fabrik erhalten bleibt. Sie wollen die Kosten reduzieren. Weniger Energie verbrauchen. Solarpanels montieren. Doch die Arbeiter können nur Vorschläge einbringen. Letztlich entscheidet die Direktion. 

«Die Vorschläge müssen reichen», sagt Gian-Piero Calzola (45), ein Verantwortlicher für die Produktionslinien der Glashütte. «Wir sind eine grosse Familie, jeder ist mit jedem verbunden», so Calzola. Auch er arbeitet in dritter Generation an diesem Ort. Was ein Ende bedeuten würde, will er sich nicht ausdenken.

Gian-Piero Calzola will die Fabrik retten.
Foto: Philippe Rossier

Aus den Arbeiterinnen und Arbeitern in Saint-Prex wurde eine Schicksalsgemeinschaft. «Ich liebe meinen Job», sagt der Glasmacher Ferreira. Es sei eine Kunst, aus flüssigem Glas eine schöne Flasche zu formen. Auf dem Fabrikareal gibt es ein Museum, das sich den verschiedenen Glasformen widmet, auch der Geschichte von Vetropack. Vielleicht ist dieses Museum alles, was bleibt.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Liebe Leserin, Lieber Leser
Der Kommentarbereich von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast. Noch kein Blick+-Abo? Finde unsere Angebote hier:
Hast du bereits ein Abo?