Nach «super» und «mega»
Das Wort «unfassbar» hast du bei Olympia immer wieder gehört

Das Unwort «unfassbar» feiert Urständ: Wie es an den Olympischen Spielen einen Höhenflug erlebte, woher es kommt und weshalb es eigentlich schlecht zur Sportberichterstattung passt – eine Wortbetrachtung.
Publiziert: 18.08.2024 um 15:17 Uhr
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Das sei «unfassbar, was ist das für eine Show, was ist das für ein Sprung!», schreibt der «Spiegel» nach dem 6,25-Meter-Weltrekord des schwedischen Stabhochspringers Armand Duplantis (24). Über die Schweizer Beachvolleyballerinnen Tanja Hüberli (31) und Nina Brunner (28) steht im Blick: «Das Duo spielt seine beste und konstanteste Saison. Was es aber im zweiten Satz zeigt, ist unfassbar gut.» Und Nationalrätin Jacqueline Badran (62) tippt auf X: «Unfassbar bewundernswert, was die Frauen und Männer im Kunstturnen bei Olympia leisten.»

Die Olympischen Sommerspiele von Paris offenbarten ein neues Modewort: unfassbar! Und wer nicht nur darüber las, sondern auch noch Livesendungen auf den diversen deutschsprachigen TV-Kanälen verfolgte, dem flog es gefühlt tausendfach um die Ohren. Alles und jedes konnte «unfassbar» sein – und das in den unterschiedlichsten Sportdisziplinen, bei denen Raum und Zeit millimeter- und hundertstelsekundengenau erfasst sind. Genau betrachtet ist von Speerwurf bis Marathon nichts unfassbar.

«Unfassbar gut», schrieb der Blick über Tanja Hüberli (l.) und Nina Brunner nach ihrem Sieg gegen die USA.
Foto: keystone-sda.ch
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Umso erstaunlicher, dass Sportkommentatorinnen und -kommentatoren das Wort so oft verwenden. Betrachtet man die Wortwolke im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS), dann steht «unfassbar» häufig in Verbindung mit Begriffen wie Brutalität, Grauen und Verbrechen. Das einzige Wort in der Wolke, das halbwegs an Sport erinnert, ist Leistungswille. «Super! Mega! Unfassbar! Was steckt hinter den olympischen Reporterfloskeln?», fragte jüngst die «FAZ» und liefert gleich die Antwort: «Eine verborgene Sehnsucht nach Helden.»

Viermal häufiger in Gebrauch als vor 20 Jahren

Ist «super» mit der Bedeutung «hervorragend» ab den 1950er-Jahren geläufig, so kommt spätestens um die Jahrtausendwende «mega» in Mode, was für «gross» und «Million» steht. Und nun geht es mit «unfassbar» in unermessliche Höhen. «Das normale Mass übersteigend, sodass man es nicht oder kaum wiedergeben kann; unglaublich», ist denn auch die eine Bedeutungsumschreibung im Duden. Die andere lautet: «Dem Verstand nicht zugänglich; sich nicht begreifen, verstehen lassend.»

Von Jahr zu Jahr scheint die Welt unglaublicher und unbegreiflicher zu werden. Das zumindest lässt der Blick auf das Säulendiagramm vermuten, das aufgrund von Daten aus dem DWDS den Gebrauch des Wortes «unfassbar» in mehreren Dutzend deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften von «Bild» über «NZZ» bis «Die Zeit» wiedergibt (siehe Grafik): Kam der Begriff 2003 noch 1909 Mal vor, so waren es 2023 bereits 7392 Nennungen – fast eine Vervierfachung! Und dieses Jahr verspricht einen neuen Rekord.

«Denken, was undenkbar ist, erfahren, was unfassbar erscheint – bis aus der Fülle der Möglichkeiten sich ein neues Bild der Wirklichkeit ergibt», schrieb schon Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832). Zwar ist «unfassbar» vor seiner Zeit im 17. Jahrhundert erstmals nachweisbar. Doch erst seit Goethe kam das Wort so richtig in Gebrauch – mit steigender Erfolgskurve bis heute, auch wenn es in den 1990er-Jahren ein bisschen weniger im Trend war.

Geadelt durch den Weimarer Dichterfürsten Goethe, hat «unfassbar» in der Literatur Einzug gehalten. Dutzende Bücher tragen «unfassbar» sogar im Titel – vom Jugendbuch über den Krimi bis zum Glaubensratgeber. Und selbst die deutsche Autorin und Literaturkritikerin Elke Heidenreich (81) schreibt gleich zu Beginn in ihrem aktuellen Bestseller «Altern»: «Ich hatte ein unfassbar wunderbares Leben.» Durchaus nachvollziehbar, denn ein Wunder wie das Leben ist letztlich unfassbar.

Ein deutsches Verstärkungswort nach «cool» und «mega»

Vom profanen Adjektiv in den literarischen Olymp: eine steile Karriere für ein Unwort. Es ist optisch unschön, klanglich unharmonisch und emotional unbedeutend. Aber es dürfte bei vielen, die es benutzen, das Unwohlsein in der Zeit zum Ausdruck bringen – manches in Gesellschaft und Politik lässt sich nicht mehr auf Anhieb verstandesmässig erfassen und einordnen. Interessant in diesem Zusammenhang: Das Gegenteil «fassbar» ist viel später – im 19. Jahrhundert – nachweisbar und bis heute seltener in Gebrauch.

Nach dem englischen «cool» und dem altgriechischen «mega» bedeutet «unfassbar» immerhin die Rückkehr zu den deutschen Wurzeln der Sprache. Als Verstärkungswort reiht es sich neben Wörter wie «irre», «verrückt» und «aussergewöhnlich», die das Abnorme und Unmögliche zum Ausdruck bringen sollen: unfassbar gut, gross oder grausam. Aber natürlich kann es auch allein für sich stehen – bei den Olympischen Spielen bewies es bereits sein Alleinstellungsmerkmal und wird dasselbe ab kommendem Mittwoch bestimmt auch an den Paralympischen Sommerspielen tun.

Das Anhängsel «bar» bei Eigenschaftswörtern dient übrigens mancher Bar als mehr oder weniger witziger Namensgeber: Wunderbar, Kostbar, Trinkbar. Doch ausgerechnet die Unfassbar hat das überzeugendste Konzept: Unter dieser Firma radelt der frühere Berner Pfarrer und heutige Barkeeper Bernhard Jungen (68) mit Velo, zwei Fässern Craftbeer und einem Zapfhahn durch die Stadt und ist mal an dieser, mal an jener Party anzutreffen – im wahrsten Sinne des Wortes unfassbar.

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